Auf ein Wort,

"Es ist der Moment zu überlegen, wie wir uns in den nächsten 75 Jahren für Menschenrechte, Frieden, Regierungsführung und Gerechtigkeit einsetzen werden!"

Eine Frau lächelt in die Kamera.

Rina Alluri
Rina Alluri ist Inhaberin des UNESCO-Lehrstuhls für Friedensforschung an der Universität Innsbruck.

75 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte - Fünf Fragen an Rina Alluri

Sie sind seit Anfang des Jahres Inhaberin des UNESCO-Lehrstuhls für Friedensforschung an der Universität Innsbruck. Wie haben Sie diese Zeit, die besonders von globalen Krisen und ihren Folgen geprägt ist, erlebt?

Wir scheinen uns tatsächlich in einem besonderen Moment der Geschichte zu befinden, der geprägt ist von der drohenden Klimakrise, den Folgen der Corona-Pandemie, anhaltenden Konflikten wie in Äthiopien, Syrien und im Jemen, dem Ausbruch von Kriegen in Israel und Palästina, der Ukraine und Russland, dem Sudan sowie von Krisen der Staatsführung und der Menschenrechte in Ländern wie Myanmar, Afghanistan und Iran. Dieses Jahr hat mir gezeigt, dass es notwendig ist, die vorhandenen Mechanismen für Menschenrechte, Frieden, Regierungsführung und Gerechtigkeit zu verstehen und zu analysieren, aber auch kritisch zu untersuchen, wie sie stärker in die Verantwortung genommen werden können. Wir müssen uns fragen, ob diese Mechanismen reformiert werden können, um den Erfordernissen des aktuellen globalen Kontextes gerecht zu werden. Es ist der Moment für Friedensforschende, Praktikerinnen und Praktiker, Aktivistinnen und Aktivisten, unsere Rollen und Verantwortlichkeiten zu hinterfragen und zu überlegen, wie wir uns in den nächsten 75 Jahren für Menschenrechte, Frieden, Regierungsführung und Gerechtigkeit einsetzen werden.

Vor 75 Jahren, am 10. Dezember 1948, hat die Weltgemeinschaft sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verständigt. Das Übereinkommen war nach dem Zweiten Weltkrieg ein Zeichen der Hoffnung und die Grundlage für eine ganze Weltordnung. Heute sehen wir vielfach die Verachtung dieser Grundregeln. Ist das Jubiläum ein Grund zum Feiern?

Ich denke wir sollten feiern, wie weit wir seit dem Ende des zweiten Weltkrieges gekommen sind, sei es durch die Anerkennung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die Gründung der Vereinten Nationen oder die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs mit der Verabschiedung des Römischen Statuts. Nichtsdestotrotz ist dies ein guter Zeitpunkt, um nach 75 Jahren neu zu bewerten, ob diese Mechanismen und Institutionen nicht besser an die Vielzahl von Konflikten, Kriegen und Krisen angepasst werden müssen, die vielleicht andere Formen der Orientierung, Policy und Intervention erfordern. Wenn Mechanismen wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte tatsächlich verachtet werden, weil sie nicht ernst genommen, nicht respektiert oder nicht durchgesetzt werden, dann müssen wir dies vielleicht als Zeichen dafür werten, dass sie ihren Zweck „als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“ nicht oder nicht mehr erfüllen. Es stellt sich jedoch die Frage, welche Art von globaler Reform umsetzbar wäre und anerkannt würde, die uns zu einer stärkeren Achtung der Menschenrechte führen könnte, anstatt das Gegenteil zu bewirken.

Seitdem hat sich die Welt technisch, gesellschaftlich, politisch massiv verändert. Ist die Menschenrechtserklärung noch zeitgemäß?

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist ein gut geschriebenes, gut gestaltetes, wegweisendes Dokument, das bedeutende und relevante Aspekte unseres heutigen Lebens abdeckt. Trotzdem müssen wir kritisch hinterfragen, wie die Erklärung umgesetzt wird, welche Verantwortung sie trägt und wie sie geltend gemacht werden kann oder eben nicht. In anderen Worten: wie können wir sicherstellen, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte nicht nur ein Referenzdokument darstellt, sondern eine Praxisgemeinschaft, die von Personen aus Aktivismus, Praxis, Wissenschaft und Politik genutzt wird, um die Menschenrechte tatsächlich zu achten und zu wahren. Kürzlich hielt Volker Türk, der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, eine Rede an der Universität von Oslo, in der er das Publikum daran erinnerte, dass „aus allen Regionen der Welt Länder zusammenkamen, um die Vereinten Nationen zu gründen und eine Erklärung zu verfassen, die den unerbittlichen Kreisläufen von Terror, Zerstörung und Armut, die sie erduldet hatten, ein Ende setzen sollte.“ Die Menschenrechtserklärung entstand parallel zu anderen Prozessen wie dem Abbau der Geschlechterdiskriminierung, der Forderung nach Unabhängigkeit von den Kolonialmächten und der Beteiligung der einfachen Menschen an Entscheidungsprozessen.
Wenn wir uns heute einige der andauernden gewaltsamen Konflikte ansehen, scheinen die Rufe nach Frieden, Gerechtigkeit und Menschenrechten leider auf taube Ohren zu stoßen. Stattdessen werden wir Zeugen einer Zeit, in der einige Nationalstaaten, politische Verantwortungsträger, Militärs und nichtstaatliche bewaffnete Akteure mit der Rechtfertigung von Gewalt, der Verletzung der Menschenrechte und des Völkerrechts und anhaltenden Formen der Diskriminierung aufgrund von rassistischen Motiven, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit oder Religion davonkommen. Deshalb müssen wir ernsthaft darüber nachdenken, wie wir sicherstellen können, dass die UN-Menschenrechtserklärung und andere institutionelle Mechanismen kritisch hinterfragt und reformiert werden, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Es ist entscheidend, dass wir uns Gedanken dazu machen, wie wir kritische, dekoloniale und intersektionale Perspektiven nutzen, gestalten und anwenden können, um Ideologien, Systeme und Strukturen in Frage zu stellen. Wir müssen die systemischen Kreisläufe von Gewalt stoppen, die weiterhin Frieden, Menschenrechte, Regierungsführung und Gerechtigkeit missachten.

Die Übereinkunft ist juristisch nicht verbindlich. Inwiefern kann sie dennoch eine Voraussetzung für Frieden und Freiheit sein?

Ich halte es für wichtig, dass die Erklärung der Menschenrechte mit anderen rechtlich bindenden Abkommen, Pakten, Verträgen und weiteren verbindlichen Vereinbarungen verknüpft ist. Wie bereits erwähnt, fehlt jedoch offenbar ein geeigneter Rahmen, um die Einhaltung von Menschenrechts- und Entwicklungszielen und -plänen zu gewährleisten. Wir müssen uns dafür einsetzen, die Menschenrechtserklärung zu bewahren, und zwar auch als etwas, das über Rhetorik hinausgehen kann. Wir müssen uns fragen, wie wir neue Wege für Frieden und Freiheit schaffen können, die möglicherweise auch über die derzeitigen Institutionen und Mechanismen hinausgehen müssen.

Was wünschen Sie sich für die Menschenrechte bis zum 100. Jubiläum?

Ich hoffe, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte nicht nur als ein hoher, unerreichbarer Maßstab für das Recht auf Überleben herangezogen wird, sondern auch allen Menschen den Rahmen für das Recht auf Gedeihen bietet.

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Menschenrechtsbildung

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