Gespräch zum Welttag der Pressefreiheit am 3. Mai
Christian Mihr
Geschäftsführer Reporter ohne Grenzen Deutschland e. V.
Das Motto des Welttags der Pressefreiheit 2022 lautet „Journalismus unter digitaler Belagerung“. Ist die Digitalisierung Fluch oder Segen für den Journalismus und die Pressefreiheit?
Christian Mihr: Einerseits hat das Internet als neuer Kommunikationsraum Presse- und Informationsfreiheit in neuen Formen und Dimensionen ermöglicht. Andererseits bietet es durch ausufernde Massenüberwachung sowie zielgerichtete Beobachtung und Ausspähung auch einen Raum wachsender Repression.
Bei Reporter ohne Grenzen ist uns das Ausmaß der Überwachung schon eine Weile bekannt, in mehr als 50 Prozent unserer Nothilfefälle sind Medienschaffende in Not geraten in Folge digitaler Überwachung – sie wurden also in Folge digitaler Überwachung verhaftet oder gefoltert oder aus ihrem Heimatland ausgewiesen. Auch als Reaktion darauf erweitert Reporter ohne Grenzen derzeit seine Nothilfe für bedrohte Medienschaffende um ein sogenanntes digitalforensisches Labor, mit dem wir in der Lage sein werden Überwachungssoftware auf Handys und Computern entdecken und entfernen zu können.
Welche Möglichkeiten gibt es das Vertrauen in und den Wert von Qualitätsjournalismus in Deutschland zu steigern?
Christian Mihr: Die Lage in Deutschland hat sich 2021 weiter leicht verschlechtert. Für diese Entwicklung sind drei Gründe zentral: eine Gesetzgebung, die Journalistinnen und Journalisten sowie ihre Quellen gefährdet, abnehmende Medienvielfalt sowie allen voran Gewalt bei Demonstrationen. Vor diesem Hintergrund braucht es dringend eine Neufassung der veralteten „Verhaltensgrundsätze zwischen Presse und Polizei“, die gegenseitige Rechte und Pflichten bei Veranstaltungen wie Demonstrationen regelt, damit Journalistinnen und Journalisten sicher berichten können.
Was sind aktuell die größten Herausforderungen für freie Berichterstattung in Deutschland, Europa und der Welt?
Christian Mihr: Neue Krisen und Kriege sowie wiederaufgeflammte Konflikte gefährden die weltweite Pressefreiheit und brachten Journalistinnen und Journalisten seit Anfang 2021 in vielen Ländern der Welt in Gefahr. Morde und Entführungen, Verhaftungen und körperliche Angriffe sind bloß unterschiedliche Ausprägungen desselben Problems: Regierungen, Interessengruppen und Einzelpersonen wollen Medienschaffende mit Gewalt daran hindern, unabhängig zu berichten. Dieses Phänomen beobachten wir in allen Teilen der Welt, ob in Russland, Myanmar oder Afghanistan.