Porträtfoto
Prof. Uli Jäger | © privat

Prof. Uli Jäger


Direktor des Programms „Friedenspädagogik und Globales Lernen“ der Berghof Foundation

Wir erleben während der Covid-19-Pandemie eine zunehmende Verbreitung von Verschwörungstheorien. Wie gut sind Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler für den Umgang mit Desinformation und Verschwörungstheorien gewappnet?

Prof. Uli Jäger: Leider fördert die Covid-19-Pandemie die Anfälligkeit für Verschwörungstheorien. Dies hat sich beim ersten Lockdown gezeigt als Schulen geschlossen wurden und Homeschooling noch in den Anfängen steckte. Der damit einhergehende Kontrollverlust und der Wegfall von Verlässlichkeit öffneten in schwierigen Zeiten Türen für verschwörungstheoretische Narrative. Vieles hängt nun von der jeweiligen Schule und dem Engagement der Lehrkräfte ab. In Zeiten von Covid-19 fehlt es in den Schulen noch mehr als zuvor an der notwendigen Zeit, um sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Herausforderungen zu beschäftigen. An erster Stelle stehen verständlicherweise die Aufrechterhaltung des Schulalltages und die Umsetzung der Bildungspläne. Die Thematisierung umstrittener, sensibler und emotional aufgeladener Themen verlangt neben Sach- und Medienkompetenzen auch Zeit und Raum um sich den unterschiedlichen Formen der Betroffenheit von Schüler*innen widmen zu können.

Worauf können Lehrkräfte bereits zurückgreifen und woran mangelt es aus Ihrer Sicht noch?

Prof. Uli Jäger: Für engagierte Lehrkräfte werden verstärkt Unterrichtshilfen zu Desinformation und Verschwörungstheorien zur Verfügung gestellt oder auch Workshops für Projektunterricht angeboten, zum Beispiel von der Bundes- bzw. den Landeszentralen für politische Bildung, von im Bildungsbereich arbeitenden Nichtregierungsorganisationen oder spezifischen Einrichtungen wie der Servicestelle Friedensbildung in Baden-Württemberg. Sicher werden auch im Kontext der Lehrpläne Themen wie Antisemitismus unter verschwörungstheoretisch aktuellen Aspekten behandelt. Von einer systematischen Vorbereitung der Lehrkräfte kann aber noch keine Rede sein. Hier muss in der Ausgestaltung der Aus- und Fortbildung rasch reagiert werden, auch bei der Aneignung kritischer Medienkompetenz. Denn Prävention ist angesagt. Je tiefer Schüler*innen sich im Dschungel von Desinformation und Verschwörungstheorien verstricken, desto schwächer ist die Basis für Aufklärungsarbeit.

Bei Verschwörungstheorien denken viele zunächst an Erwachsene, doch auch Kinder und Jugendliche sind betroffen. Welche Erfahrungen von jungen Menschen mit Verschwörungstheorien, Desinformation oder Hate Speech bekommen Sie in Ihrer Arbeit mit?

Seit einigen Jahren führen wir im Kontext von Projektarbeiten Workshops mit Schüler*innen zu den genannten Problembereichen durch. Ob Verschwörungstheorien oder Desinformationen: Jugendliche verbringen als „Digital Natives“ viel Zeit im Internet und werden dabei in beträchtlichem Umfang mit diesbezüglichen Meinungsangeboten konfrontiert. Es geht zum Beispiel um die absurde Vorstellung der Steuerung der Welt durch bösartige Eliten, um die behauptete Entwicklung von Corona aus Macht- und Kontrollgier oder um einen von der Bundesregierung scheinbar angestrebten „Bevölkerungsaustausch“. Extremistische Gruppen nutzen diese Narrative zur Manipulation und Radikalisierung. Jugendliche sind in der sensiblen Phase ihrer Persönlichkeitsentwicklung und der Suche nach Orientierung noch schneller anfällig für Radikalisierungsprozesse. Aufgrund ihrer hohen Affinität zu den sozialen Medien steigen die Berührungspunkte mit Verschwörungstheorien. Dies trifft auch auf das Problem Hate Speech zu. Jugendliche werden nicht nur abstrakt damit konfrontiert, sondern sind manchmal auch selbst Opfer. Gleichzeitig stellen wir aber auch fest, dass das Informationsbedürfnis sehr groß ist: Sie fragen zum Beispiel, wie sie Desinformation identifizieren und seriöse Quellen finden können. Auch die Bereitschaft zur kritischen Auseinandersetzung und zum Handeln sind groß – sie wollen wissen, was sie selbst gegen Hate Speech tun können.

Wie sollten Lehrkräfte mit Desinformation und Verschwörungstheorien in der Schule umgehen?

Prof. Uli Jäger: Zuerst: Die Problematik sich in der ganzen Tragweite selbst vergegenwärtigen, wahrnehmen und proaktiv zur Sprache bringen. Die Chancen nutzen, an den Erfahrungswelten der Schüler*innen anzuknüpfen und sich von Berührungspunkten mit der Problematik authentisch berichten zu lassen. Mit den Schüler*innen absprechen und abwägen, in welchem Kontext eine Beschäftigung stattfinden soll, beispielsweise im Regelunterricht oder in einem Projekt, mit Unterstützung durch externen Expert*innen oder ohne. Auf die zerstörerischen Folgen aufmerksam machen und gleichzeitig das Handlungspotential aufzeigen.

„Schülerinnen und Schülern ihr Handlungspotenzial aufzeigen“ – haben Sie Vorschläge, wie Lehrkräfte dabei vorgehen können?

Prof. Uli Jäger: Wir ermutigen in unseren Workshops die Schüler*innen zum Beispiel dazu, ihren Beitrag zu einer digitalen Zivilgesellschaft zu leisten. Die Begeisterung der Schüler*innen für soziale Medien nutzen, um ihre kritische Medienkompetenz zu stärken und gleichzeitig auch allgemein zum kritischen Denken zu inspirieren. Es geht weniger um die Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien im Detail – denn hier besteht die Gefahr einer ungewollten Verstärkung –, sondern darum, grundsätzliche Narrative wie zum Beispiel Antisemitismus zu erkennen, Ursachen und Motive aufzuarbeiten warum Menschen an Verschwörungstheorien glauben, welche Funktionen Verschwörungstheorien erfüllen sollen und warum sie verbreitet werden. Wie gesagt: Prävention ist chancenreicher als auf einzelne Vorfälle in der Klasse oder der Schule reagieren zu müssen.

Vor kurzem hat die Berghof Foundation das Modellprojekt „#vrschwrng - Ein interaktives Toolkit gegen Verschwörungstheorien“ gestartet – welche Ziele verfolgt das Projekt und mit welchen Mitteln arbeiten Sie?

Prof. Uli Jäger: Das Modellprojekt „#vrschwrng - Ein interaktives Toolkit gegen Verschwörungstheorien“ findet im Rahmen des Bundesprogrammes „Demokratie leben!“ statt. Es zielt darauf ab, Jugendlichen einen Raum zu bieten, um sich kritisch mit Verschwörungstheorien, den zugrundeliegenden Narrativen sowie entsprechenden Einstellungsmustern auseinanderzusetzen. Durch die unterschiedlichen Module wird das sozio-emotionale Lernen angeregt, die Konfliktfähigkeit sowie die Ambiguitätstoleranz der Jugendlichen gestärkt. Im Projekt verfolgen wir konsequent einen dialogorientierten, partizipativen Prozess in Form eines Peergroup-Ansatzes. Dieses Vorgehen stärkt bei der Entwicklung von Lernmedien das Wissen und das Reflexionsvermögen nicht nur der direkt an den Prozessen beteiligten Jugendlichen. Es gewährleistet darüber hinaus eine adäquate Zielgruppenansprache: Lernmaterialien werden nicht nur für die Zielgruppe entwickelt, sondern gemeinsam mit ihr!

Anfang November fand ein dreitägiges digitales Camp mit Schülerinnen und Schülern von UNESCO-Projektschulen im Rahmen des Modellprojekts #vrschwrng statt – warum sind solche Workshops gerade jetzt besonders wichtig? Was nehmen Sie aus diesen Workshops mit?

Prof. Uli Jäger: Die Bereitschaft der Schüler*innen, sich am Camp zu beteiligen und aktiv einzubringen war sehr groß. Das große Vorwissen mancher Schüler*innen hat uns überrascht, die spürbare Bereitschaft zum Engagement sehr gefreut. Die Erfahrungen sind sehr ermutigend: Für unseren Projektansatz, für die Zusammenarbeit zwischen der Berghof Foundation und den UNESCO-Projektschulen und natürlich vor allem für die beteiligten Schüler*innen und Schulen.

Welche Kompetenzen müssten neben den Medien- und Informationskompetenzen für eine wirkungsvolle Bildungsarbeit gegen Verschwörungstheorien gestärkt werden? An welchen Schrauben im Bildungssystem würden Sie dafür drehen?

Prof. Uli Jäger: Um der Anfälligkeit von Jugendlichen für Verschwörungstheorien entgegenwirken zu können, bedarf es der systematischen Vermittlung kritischer Medien- und Informationskompetenz. Doch es geht auch um die Vermittlung von Ambiguitätstoleranz, von Kritischem Denken und von Konfliktfähigkeit. Junge Menschen müssen die Erfahrung machen dürfen, dass friedliches Zusammenleben gewinnbringend ist und dass Demokratie und Menschenrechte wichtige Grundpfeiler sind. Angesichts der Herausforderungen gilt es, die Schule als Ort und Ausgangspunkt gemeinsamen Lernens von Lehrkräften, Schüler*innen und Eltern, als geschützten Raum für offene Gesprächs- und Streitkultur, als Impuls- und Inspirationsquelle für das Nachdenken über die Art und Weise zukünftigen gewaltfreien Zusammenlebens und als Labor für jugendgerechtes gesellschaftliches Friedensengagement zu pflegen und vor allem weiterzuentwickeln. Friedenspädagogik kann dazu ihren Beitrag leisten ebenso wie zur besseren Vorbereitung und Begleitung der Lehrkräfte mit entsprechenden Angeboten in der Aus- und Weiterbildung. Die angemessene Verfügbarkeit von Zeit, Ressourcen und Räumen an den Schulen sowie die Einbeziehung der Schüler*innen in die jeweiligen Prozesse sind weitere Anforderungen an das Bildungssystem.

Alle Interviews