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Fakten

  • Aufnahmejahr: 2018
  • Verbreitung: Furth im Wald
  • Zentraler Termin: August
  • Bereich: gesellschaftliche Bräuche, Rituale und Feste

Der Drachenstich in Furth im Wald ist ein Volksschauspiel mit einer Tradition von annähernd 500 Jahren, der seine Grundmotive im Kern behalten, sie aber im lebendigen Austausch mit den sich wandelnden Lebensrealitäten weiterentwickelt hat. Der Drachenstich ist für die Bevölkerung der Höhepunkt des Jahres. Es gibt einen steten Andrang auf die Rollen des Festspiels, gerade bei Kindern und Jugendlichen. Die Tradition verlangt, dass Ritter und „Ritterin“ (eine alte Titulatur, die nur für Furth im Wald nachweisbar ist) alljährlich neu besetzt werden. Kandidaten dafür müssen heute nicht mehr aus Furth gebürtig sein, aber eine Verbundenheit mit der Stadt haben. An diesem Ernennungsprozess nehmen die Bürger größten Anteil, denn die jungen Darsteller des „Ritterpaars“ sind zugleich ein Jahr lang Repräsentanten der Stadt in der Öffentlichkeit und den Medien. Die Hauptdarsteller bleiben ihr Leben lang im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung und werden in der öffentlichen Wahrnehmung stark über ihre Rolle definiert. Der hohe Grad der Verbundenheit mit der Stadt besteht allerdings bei allen 1.500 Darstellern von Festspiel und Festzug. Die Mitwirkenden entstammen allen Alters- und Gesellschaftsschichten und agieren ehrenamtlich. Die Organisation obliegt einem im 19. Jahrhundert aus der Bürgerschaft entstandenen Festspielverein. Die Mitwirkenden des Festspielgeschehens organisieren sich selbstständig in unterschiedlicher Form. Das reicht vom lockeren Verbund mit gemeinsamen Stammtischtreffen und Ausflügen bis hin zum eingetragenen Verein mit ausgeprägter Organisationsstruktur. Jüngste Träger des Brauchs sind die Further Kinder. Viele kennen den Festspieltext auswendig und spielen ihn zuhause in den zur Tradition gewordenen „Hinterhofspielen“ nach.

Der Drachenstich steht repräsentativ für einen einst in ganz Europa verbreiteten kulturellen Brauch. Ursprünglich war das „Drachenstechen“ Bestandteil des Fronleichnamszugs: Ein als St. Georg gekleideter Reiter kämpft gegen einen Drachen – eine zeitlose Parabel auf den Kampf des Guten gegen das Böse. In Furth im Wald ist der Brauch ab 1590 urkundlich nachweisbar. Der rationale Geist im Zeitalter der Aufklärung lässt diesen Brauch als unzeitgemäßes Spektakel erscheinen, und so stirbt er fast überall aus, nicht aber in Furth im Wald. Als allerdings 1878 dem Ortsgeistlichen das Spektakel um den Drachen die Andacht der Fronleichnamsprozession allzu sehr beeinträchtigt, erwirkt er doch ein Verbot. Ein Sturm der Empörung erhebt sich in der Bevölkerung, der Drachenstich wird trotzig aufgeführt. Schließlich einigt man sich auf die völlige Loslösung des alten Brauchs aus dem kirchlichen Kontext. Der Drachenstich wird als Festspiel neu geboren.

In den wechselnden Texten des Festspiels findet stets eine Auseinandersetzung mit der Lebensrealität an der bayerisch-böhmischen Grenze statt. War der Drachenstich über die Jahrhunderte ein grenzübergreifendes gemeinsames Fest, so tritt im 20. Jahrhundert durch die gewandelten politischen Verhältnisse eine deutliche Distanzierung ein. Zur Zeit des Nationalsozialismus wird im Festspiel gar zum „Kreuzzug der Deutschen gegen die Ungarn“ aufgerufen. Als der Drachenstich nach der Unterbrechung durch den Zweiten Weltkrieg 1948 wieder einsetzt, nimmt man solche Änderungen, die das NS-Regime durchgesetzt hat, wieder zurück. Nun, da sich Furth am Rand des Eisernen Vorhangs wiederfand, symbolisierten im Festspiel die böhmische Hussitenbewegung und der Drache die kommunistische Bedrohung aus dem Osten. Heute setzt sich die Neufassung des Festspieltexts mit Furths aktueller Situation in der Mitte Europas auseinander. In den Glaubenskriegen des Mittelalters spiegeln sich nun die Mechanismen der modernen Glaubenskriege wider, und die mittelalterliche Hussitenbewegung erkennt man jetzt historisch korrekt als erste Bestrebung zur tschechischen Identität an. Damit reicht das neue Festspiel in einem zusammenwachsenden Europa dem tschechischen Nachbarstaat wieder die Hand.

Den Willen zum Wandel spiegelt auch der Drache wider. Einst verbarg sich unter dem Ungeheuer zum Lohn von ein paar Maß Bier der Stadtärmste und bangte, dass ihn des Ritters Lanze nicht versehentlich traf. Heute ist der Further Drache ein vollanimierter mechatronischer High-Tech-Roboter, hergestellt im Bayerischen Wald. Dieser steht gar im Guinness-Buch der Rekorde als der größte Schreitroboter der Welt. Der neue Drache ist nun nicht nur die simple Verkörperung des Bösen, sondern spiegelt in differenzierterer Weise die Ambivalenz der Prinzipien Gut und Böse wider.

Kontakt

Drachenstich-Festspiele e.V.
Sandro Bauer
E-Mail
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