Al-Ahwar im Südirak: Schutzgebiet der Artenvielfalt und Reliktlandschaft mesopotamischer Städte
Wechselbeziehung zwischen Natur und menschlicher Innovationskraft
Iraks fünfte Welterbestätte ist gleichzeitig die erste gemischte Natur- und Kulturerbestätte des Landes. Die drei archäologischen Stätten der Sumerer Ur, Uruk und Tell Eridu sowie die vier Marschgebiete erinnern an die Wechselbeziehung zwischen günstigen natürlichen Rahmenbedingungen und menschlicher Innovationskraft, welche die Entwicklung und den Bestand von Hochkulturen erst ermöglichen.
Faktenbox
- Aufnahmejahr: 2016
- Staat: Irak
- Art der Stätte: gemischte Welterbestätte
- Erfüllte Aufnahmekriterien: (iii) (v) (ix) (x)
- Webseite des UNESCO-Welterbezentrums
Bei dieser neuen gemischten Welterbestätte handelt es sich um eine serielle Stätte im Südirak. Die beiden archäologischen Städte Ur und Uruk sowie das religiöse Zentrum Tell Eridu entstanden zwischen dem 4. und 3. Jahrtausend v. Chr. Sie zeugen von Entstehung, Blütezeit und Untergang der urbanen Zentren und Gesellschaften in Südmesopotamien zwischen der Ubaid- und Sumererzeit bis zur babylonischen und hellenistischen Zeit in den letzten Jahrhunderten v. Chr. Das Sumpfdelta von Euphrat und Tigris spielte eine zentrale Rolle in der Entfaltung der sumerischen Kultur, denn die drei archäologischen Stätten lagen einst am Ufer des Süßwasser-Marschlands der beiden Ströme. Durch tektonische Bewegungen zog sich der Persische Golf ab dem 2. Jahrtausend v. Chr. nach Süden zurück. Die fruchtbare Schwemmlandebene um die sumerischen Städte trocknete aus, dies führte zum Niedergang der großen Städte von Südmesopotamien. Mit dem Rückzug des Meeres bildete sich weiter südöstlich die heutige Marschlandschaft „Al-Ahwar“. Eines der vier eingeschriebenen Gebiete, die Huwaizah-Marsch an der Grenze zu Iran, ist gleichzeitig ein ausgewiesenes „Feuchtgebiet von internationaler Bedeutung“ im Rahmen der Ramsar-Konvention von 1971.
Die erste Hochkultur und die Erfindung der Keilschrift
Die Einschreibung der Stätte erfolgte auf der Grundlage von insgesamt vier Kriterien. Zwei davon beziehen sich auf Kulturerbestätten: „die Güter stellen ein einzigartiges Zeugnis einer untergegangenen Kultur dar“ (Kriterium iii) und sind „ein hervorragendes Beispiel der Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt“ (Kriterium v).
Die Überreste der mesopotamischen Städte sind Zeugnis des außergewöhnlichen Beitrags der südmesopotamischen Kulturen zur Entwicklung der antiken Gesellschaften und zur Geschichte der Menschheit insgesamt. Hier entstanden monumentale Gebäude und Strukturen aus Lehmziegeln in Form von Zikkuraten (gestufte Tempeltürme), Palästen, Stadtmauern, ausgedehnten Wohnvierteln und künstlichen Bewässerungssystemen. Die Sumerer gelten als die erste Hochkultur mit einer komplexen Gesellschaftsordnung, sie erfanden die Bürokratie und die Keilschrift und hielten nicht nur Geschäftsvorgänge auf Tontafeln fest, sondern verschriftlichen auch eines der ältesten literarischen Werke – das Gilgamesch-Epos.
Auszug aus dem Statement of Outstanding Universal Value, 2016
“The Ahwar of southern Iraq are one of the world’s most important freshwater ecosystems situated within an extremely arid environment […]. They can be considered a 'wetland island in a vast ocean of desert'.”
"Die Ahwar im Südirak sind eines der wichtigsten Süßwasserökosysteme der Welt in einer extrem trockenen Umgebung [...]. Sie können als eine "Feuchtlandinsel in einem riesigen Ozean der Wüste" betrachtet werden."
Eine Oase für Zugvögel im Wüstenmeer
Die weiteren zwei Einschreibungskriterien beziehen sich auf Naturerbestätten: insbesondere die vier Teilgebiete des Marschlands stellen „außergewöhnliche Beispiele bedeutender in Gang befindlicher Evolutionsprozesse von Ökosystemen dar“ (Kriterium ix) und „bieten besonders bedeutsame Lebensräume für die biologische Vielfalt“ (Kriterium x).
Das Marschland „Al-Ahwar“ liegt in einer extrem trockenen Region und speist sich aus den Nebenarmen von Euphrat und Tigris. Der Wasserspiegel unterliegt im Verlauf eines Jahres großen Schwankungen, hervorgerufen durch einen jährlichen Wechsel zwischen Hochwasserzeiten durch Niederschläge und Schneeschmelzen flussaufwärts und sehr trockenen Sommerzeiten.
Dieses sehr variable Ökosystem beherbergt die Laichgründe einiger Meeresfischarten und ist der letzte Rastplatz auf der westasiatisch-ostafrikanischen Zugroute für Millionen von Zugvögeln vor der Überquerung der Arabischen Halbinsel. Das Marschland bietet außerdem Lebensraum für zwölf weltweit bedrohte Vogelarten, wie der Marmelente und dem Basra-Rohrsänger – 70 Prozent der Basra-Rohrsänger-Population nistet im Al-Ahwar-Marschland – und acht bedrohten Säugetierarten, wie dem Weichfellotter, der Roten Pestratte und der Euphrat-Weichschildkröte.
Bedrohtes Welterbe vor dem Hintergrund von Wasserkonflikten
Das gesamte Marschland wurde, bis auf die Huwaizah-Marsch, in den 1980er und 1990er Jahren trocken gelegt. Zu Beginn des Jahrtausends wurde das Gebiet wieder geflutet. Angesichts dieser drastischen Veränderungen in der jüngsten Vergangenheit weist das Ökosystem der Al-Ahwar eine erstaunliche Resilienz und Anpassungsfähigkeit auf.
Dennoch sieht das Welterbekomitee sowohl die Kultur- als auch die Naturkomponenten der Welterbestätte durch mehrere Entwicklungen bedroht: Seit den Ausgrabungsarbeiten in den 1930er Jahren nagen mangels regelmäßiger Instandhaltung und personeller Ressourcen Erosion, Wind und Niederschläge an den Lehmbauten und führen zu Verfall und mancherorts Einsturzgefahr.
Porträtserie
Im Rahmen der 40. Sitzung des UNESCO-Welterbekomitees im Juli 2016 in Istanbul wurden 21 Stätten neu in die Liste des Welterbes aufgenommen. In ihrer Gesamtheit versinnbildlichen sie die Vielfalt und Bandbreite des gemeinsamen Erbes der Menschheit, dessen Erhaltung und Pflege sich die internationale Staatengemeinschaft 1972 mit dem "Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt" verschrieben hat.
Für das Ökosystem der Marschgebiete stellen Pläne für Erdölförderung in unmittelbarer Nähe der Pufferzonen eine beträchtliche Bedrohung dar. Darüber hinaus spielen jedoch die Wasserqualität und die sinkende Wasserversorgung eine Schlüsselrolle. Das Nachbarland Iran baut derzeit einen Damm, der den Wasserzufluss in der Huwaizah-Marsch zu beeinträchtigen droht. Staudämme in den Anrainerstaaten von Euphrat und Tigris – Syrien und Türkei – führen zu einem niedrigeren Wasserspiegel im gesamten Marschland. Der am Tigris in Planung befindliche Ilisu-Staudamm in der Türkei könnte den Wasserzufluss des Tigris im Irak um die Hälfte verringern, sich negativ auf 670.000 Hektar Ackerfläche auswirken und könnte das Marschland „Al-Ahwar“ völlig trocken legen. Für den nachhaltigen Umgang mit Wasserressourcen und Wasserkraft, die Sicherung der Lebensgrundlage von Millionen von Menschen und den langfristigen Schutz und Erhalt dieser einzigartigen Welterbestätte ist ein Dialog aller Akteure auf nationaler und internationaler Ebene unentbehrlich.