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Proteste im Iran werden immer lauter – auch in der Wissenschaft

Iranische Physikerin tritt aus Protest gegen die Unterdrückung der Wissenschaftsfreiheit und gegen die Gewalt von ihrer universitären Stellung zurück

Dr. Encieh Erfani hatte im Dezember 2021 bei einer internationalen Konferenz der Deutschen UNESCO-Kommission über „gute wissenschaftliche Praxis“ einen viel beachteten Vortrag gehalten. Dr. Erfani ist nicht nur Kosmologin, sondern auch Vorstandsmitglied der Global Young Academy und sprach in dieser Rolle über Fehlverhalten in der Forschung wie Fälschungen und Plagiate, das Zurückhalten von Daten, die Reklamierung unverdienter Autorenschaft oder eine voreingenommene Bewertung. Gerade aus der Perspektive einer Nachwuchsforscherin war für sie unzureichende Betreuung und voreingenommene Bewertung von Studierenden ein wichtiges Thema. Angesichts des besonderen Drucks ("publish or perish") stünden Nachwuchsforscherinnen und -wissenschaftler vor dem Risiko eines absichtlichen, aber noch mehr eines unabsichtlichen Fehlverhaltens.

Neun Monate später wurden im Iran diese für Nachwuchsforscherinnen und -forscher so zentralen Fragen von noch viel existenzielleren Entscheidungen überstrahlt. Auslöser war der Tod von Mahsa Amini am 16. September, die drei Tage zuvor von der Sittenpolizei wegen eines angeblichen Verstoßes gegen die strenge islamische Kleiderordnung festgenommen worden war und mutmaßlich durch Polizeigewalt in Polizeigewahrsam starb. Dies hat im Iran und weltweit tägliche Proteste von ungewohnter Heftigkeit und Dauer ausgelöst. Immer mehr Iranerinnen verstoßen bewusst gegen die Kleiderordnung, nehmen ihre Kopftücher ab, verbrennen diese oder schneiden sich öffentlich die Haare. Die Behörden reagieren brutal. Etwa 200 Menschen starben bislang bekanntermaßen.

Gerade auch an den iranischen Universitäten gab und gibt es Proteste gegen die Führung der islamischen Republik und ihren repressiven Kurs. In vielen Universitäten wurden Vorlesungen abgesagt. Weit mehr als 100 Studierende wurden in Gewahrsam genommen. Viele Universitäten sind de facto geschlossen.

Die Kosmologin Dr. Erfani trat aus Protest am 23. September, dem ersten Lehrtag an Schulen und Universitäten nach den Ferien, von ihrer Stellung am Institut für grundlegende Naturwissenschaften (Institute of Advanced Studies in Basic Sciences, IASBS) in Zandschan zurück. Das IASBS unterhält bzw. unterhielt viele Kooperationen auch mit führenden deutschen, amerikanischen und französischen Forschungseinrichtungen. Dr Erfani hat an der Universität Bonn promoviert. Zu ihren vielen ungewöhnlichen Leistungen gehört auch die Gründung eines eigenen Förderprogramms für Studierende. Sie befindet sich inzwischen an einem sicheren Ort.

In Interviews mit der ZEIT und dem Wissenschaftsjournal NATURE sprach Dr. Erfani über die aktuellen Entwicklungen. Auf die Frage, warum sie sich für den Rücktritt entschieden hat, antwortete sie, dass die Studierenden in ganz Iran zu Recht die Klage führen, dass die Professoren schweigen. Als Hochschullehrerin sehe sie sich als Trägerin des Systems, einer „brutalen Diktatur“ und habe es nicht länger ertragen zu schweigen. „Die iranischen Universitäten stehen unter der Kontrolle der Regierung. Die Präsidenten der Universitäten werden vom Ministerium ausgewählt. In den Berufungsausschüssen sitzen Mullahs, die neben der wissenschaftlichen Bewertung nach politischen Gesichtspunkten bewerten, nach persönlichem Hintergrund, nach Familie und politischen Aktivitäten.“ Auch an der Universität gelte die Kleiderordnung, das Gespräch über Frauenrechte sei verboten, über Fälle sexueller Belästigung wage niemand zu sprechen. Sie wolle das Schweigen nicht mehr mitmachen und sich stattdessen lautstark wehren.