SchUM-Stätten Speyer, Worms und Mainz
Im Juli 2021 hat das Welterbekomitee die SchUM-Stätten in Speyer, Worms und Mainz zum UNESCO-Welterbe ernannt. Die Welterbestätte umfasst den Speyerer Judenhof, den Wormser Synagogenkomplex und die Alten Jüdischen Friedhöfe in Worms und Mainz. Das Akronym SchUM setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der hebräischen Städtenamen von Speyer (Schpira = Sch), Worms (Warmaisa = U) und Mainz (Magenaza = M) zusammen.
Fakten
Aufnahmejahr: 2021
Bundesland: Rheinland-Pfalz
Art der Stätte: Kulturstätte
Erfüllte Aufnahmekriterien: (ii), (iii), (vi)
Ein lebendiges jüdisches Erbe
Die alten Grabsteine sind mit Moos und Flechten überwachsen, viele sind in dem weichen Grasboden abgesackt und ragen schief aus der Erde. Andere stehen auch nach Jahrhunderten noch aufrecht, verziert mit langen hebräischen Inschriften. Der Mainzer Judensand ist der älteste jüdische Friedhof in Europa, sein frühester Grabstein stammt aus dem Jahr 1049. Die gut drei Hektar große Begräbnisstätte ist das letzte verbliebene Monument, das heute von der mittelalterlichen Blütezeit der jüdischen Gemeinde in Mainz zeugt – der Muttergemeinde des so genannten SchUM-Verbunds, dem außerdem noch Speyer und Worms angehörten. Die Bezeichnung setzt sich zusammen aus den Anfangsbuchstaben der drei hebräischen Städtenamen: Schpira, Warmaisa und Magenza.
Lebendiges jüdisches Erbe
Wie lebendig das jüdische Erbe hier bis heute ist, zeigen die vielen Steine und Papierzettel, die jüdische Besucherinnen und Besucher an einzelnen Grabsteinen hinterlassen. „Wir stehen hier an den Gräbern jüdischer Gelehrter, die das Judentum nachhaltig beeinflusst haben“, erklärt Aharon Ran Vernikovsky, Rabbiner der jüdischen Gemeinde. „Die Art und Weise, wie wir jüdische Theologie heute verstehen und anwenden, ist ohne den Beitrag der SchUM-Gelehrten nicht vorstellbar. Sie haben hier vor 1.000 Jahren religionsrechtliche Reformen und religiöse Gesetze erlassen, Liturgien und Gebete verfasst, die wir bis heute benutzen.“ Das Verbot der Polygamie im europäischen Judentum gehöre zum Beispiel dazu, zählt Vernikovsky auf, eine Reform des Scheidungsrechts, die die Position der Frauen stärkte, und sogar das Briefgeheimnis hätte seinen Ursprung in den SchUM-Städten.
Mittelalterliches Stadtentwicklungsprojekt
Im Speyerer Museum SchPIRA steht Matthias Nowack, der städtische SchUM-Koordinator, vor einem großen, auf den Fußboden gezeichneten Plan des mittelalterlichen Stadtkerns. Gut erkennbar ist der imposante Dom im Zentrum, nur einen Steinwurf vom Domplatz entfernt führen enge Gassen in das historische Judenviertel. „Die enge Nachbarschaft zwischen Dom und jüdischem Viertel war im Mittelalter außergewöhnlich“, sagt Nowack. „Der Bischof von Speyer holte im Jahr 1084 jüdische Familien in die Stadt, indem er ihnen weitreichende Privilegien und Grundstücke anbot. Heute würden wir sagen: Das war ein Stadtentwicklungsprojekt.“ Der Judenhof war einst das religiöse Zentrum des jüdischen Viertels. Heute stehen hier die Überreste der rituellen Bauwerke: eine 1104 errichtete Synagoge, direkt daneben die so genannte Frauenschul aus dem 13. Jahrhundert, in der Frauen die Gottesdienste verfolgten, sowie eine Mikwe, ein jüdisches Ritualbad. Im Boden verborgen liegen zudem die Fundamente der Jeschiwa – hier unterrichteten die Religionsgelehrten ihre Studenten.
außergewöhnliche Nachbarschaft
Während von Synagoge und Frauenschul nur noch Mauerreste stehen, hat die Mikwe weitgehend unbeschadet überdauert. Breite Steinstufen führen elf Meter in die Tiefe bis zu dem unterirdischen Wasserbecken, durch das langsam das Grundwasser strömt. In einem Vorraum auf halber Strecke konnten die Gläubigen sich in einer Nische entkleiden, von hier ließ sich auch durch große Fenster überwachen, ob die Badenden mit dem gesamten Körper untertauchten, wie es das Ritual verlangt. „Die Mikwe ist um 1120 erbaut und damit die älteste dieser Bauart in ganz Europa“, erklärt Nowack. „Auffällig ist die Ähnlichkeit zu christlichen Bauwerken der Zeit, was die Bauzier angeht. Das lässt auf eine enge Zusammenarbeit zwischen den christlichen Handwerkern und der jüdischen Gemeinde schließen.“ Dass die Speyerer Mikwe bis heute eine besondere Bedeutung habe, sehe man auch daran, dass ein Modell von ihr heute im Museum in Tel Aviv stehe. Und immer wieder käme es vor, dass jüdische Touristinnen und Touristen anfragen, ob sie in die Mikwe eintauchen könnten, sagt Nowack. „Heute ist das allerdings kein religiöser Ort mehr, sondern ein kulturelles Monument.“
Geschichte von Zerstörung und Wiederaufbau
Unter Rundbögen laden in die Mauern eingelassene Steinbänke im Wormser Synagogenhof zum Verweilen ein, bunte Blumen leuchten hinter den niedrigen Mauern, in einer benachbarten Kita hört man Kinder spielen. An der schlichten Synagoge ist für das geschulte Auge eine lange Geschichte von Zerstörung und Wiederaufbau ablesbar. Zuletzt wurde sie 1961 wiedererrichtet, nachdem die Nationalsozialisten die Synagoge 1938 in Brand gesteckt hatten. „Nur die Grundmauern sind dabei erhalten geblieben und viele einzelne Teile der Architektur“, erzählt Stefanie Hahn, die Leiterin der Stabsstelle UNESCO-Welterbeantrag SchUM-Stätten beim Land Rheinland-Pfalz. „Engagierte Bürger haben unter anderem die Portale und Fenstereinfassungen geborgen und vor den Nationalsozialisten gesichert. Später wurden sie dann wieder eingebaut.“ Keine gesicherten Überreste gibt es hingegen von der ersten Synagoge am Platz. Nur eine Steintafel in der Fassade – die im Original erhaltene Stifterinschrift – erinnert auf Hebräisch an Jakob ben David und seine Frau Rahel, die an dieser Stelle eine 1034 geweihte Synagoge stifteten – sie wurde bei antijüdischen Pogromen während des ersten Kreuzzugs 1096 beschädigt und im 12. Jahrhundert durch ein neues Gebäude ersetzt.
Um die Synagoge herum spielte sich das jüdische Leben der Gemeinde ab. Die Wormser Mikwe stammt von 1185/1186 und ist von dem Ritualbad in Speyer inspiriert. Ab 1212 ergänzte ein Anbau mit der ältesten bekannten Frauenschul die Synagoge. Wenig später übernahm die Speyerer Schwestergemeinde die Anregung, Frauen einen eigenen Raum zum Beten einzurichten – der Kontakt zwischen den Städten war eng. Im 17. Jahrhundert kam eine Jeschiwa für das religiöse Studium hinzu. Für Zusammenkünfte und festliche Anlässe stand wenige Meter entfernt das „Tanzhaus“ zur Verfügung, der Nachfolgebau beherbergt heute das Stadtarchiv und das jüdische Museum. „In Worms ist die komplette mittelalterliche Infrastruktur heute noch erhalten, das ist in Deutschland einzigartig“, sagt Hahn.
Neben dem Synagogenbezirk gehört dazu auch der Friedhof Heiliger Sand. Die ältesten der rund 2.500 erhaltenen Grabsteine stammen von 1058, die jüngsten aus den 1930er Jahren. Wie auf dem Mainzer Judensand sind auch hier die oft langen Grabinschriften eine wichtige historische Quelle, um mehr über das Leben in den SchUM-Gemeinden zu erfahren. „Aus Grabinschriften wissen wir zum Beispiel, dass es hier schon im 13. Jahrhundert Kantorinnen gab, die in der Frauenschul gesungen haben“, erklärt Hahn. Andere Grab- und Gedenksteine erinnern an Märtyrer, die bei Pogromen ums Leben gekommen sind.
Christlich-jüdische Begegnung
Christlich-jüdische Begegnung in all ihren Facetten
„Die Geschichte der SchUM-Gemeinden spiegelt die christlich-jüdische Begegnung in all ihren Facetten wider“, sagt Hahn. „Dazu gehört das Gute, zum Beispiel der Austausch mit christlichen Baumeistern, der diese hervorragenden Monumente hervorgebracht hat. Auf der anderen Seite ist es eine Geschichte von Verfolgung und Zerstörung bis hin zum Völkermord der Shoah. Trotzdem haben Jüdinnen und Juden immer wieder an diese Orte angeknüpft, bis hin zu den heutigen jüdischen Gemeinden.“ Ähnlich sieht es auch Rabbiner Vernikovsky: „Die SchUM-Geschichte ist sehr ambivalent und auch voller Tragik. Aber es gibt diese Monumente noch und ihre Geschichte wird noch immer erzählt, das ist mir sehr wichtig. Ich hoffe sehr, dass der Status ‚Welterbe‘ dazu beiträgt, dass wir jüdische Geschichte in Zukunft noch besser vermitteln können.“
Der außergewöhnliche universelle Wert
Authentizität
Die Form und Gestaltung, die wesentliche Anlage, die räumliche Organisation der SchUM-Stätten Speyer, Worms und Mainz und die jeweiligen Wechselbeziehungen und Sichtbeziehungen zwischen den Elementen innerhalb der Teilstätten sowie deren architektonische Formen und Gestaltungen spiegeln die bedeutende und prägende Entwicklung dieser Stätten im Hochmittelalter klar und eindeutig wider. Die Elemente sind entsprechend der geschichtlichen Entwicklung vom 11. bis zum 14. Jahrhundert, mit Ergänzungen im 17. Jahrhundert und Eingriffen im 20. Jahrhundert, gut erhalten; Rekonstruktionen wurden respektvoll durchgeführt und haben die denkmalpflegerische Bedeutung der Monumente erhalten. Bereits im späten 19. Jahrhundert wurden Maßnahmen zum Schutz der Substanz eingeleitet. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die Teilstätten und ihre Elemente wissenschaftlich untersucht und ihre Bedeutung zunehmend erkannt. Die vorhandene Dokumentation ist gründlich, und die Forschung wird kontinuierlich fortgesetzt, um das Wissen über das Objekt zu erweitern.
Integrität
Die SchUM-Stätten von Speyer, Worms und Mainz enthalten alle Elemente, die notwendig sind, um den außergewöhnlichen universellen Wert auszudrücken. In ihrer Gesamtheit repräsentieren sie die eng miteinander verbundene kulturelle Tradition des Qehillot SchUM in den Städten Speyer, Worms und Mainz und spiegeln den besonderen Beitrag eines jeden Teils zur Reihe wider. Keiner der Teile ist durch Entwicklung oder Vernachlässigung bedroht, jeder Teil genießt den höchstmöglichen rechtlichen Schutz nach dem Denkmalschutzgesetz von Rheinland-Pfalz (gemäß Artikel 8 DSchG), und die laufende Erhaltung des Objekts wird von den örtlichen Gemeinden angemessen finanziert und gut unterstützt.
Kriterien
Kriterium (ii)
Die SchUM-Stätten von Speyer, Worms und Mainz sind wegweisende Ensembles jüdischer Gemeindezentren und Friedhöfe aus dem Hochmittelalter. Ihre Form und Gestaltung beeinflusste die jüdische Architektur, Ritualbauten und Bestattungskultur in ganz Mitteleuropa nördlich der Alpen sowie in Nordfrankreich und England.
Kriterium (iii)
Die SchUM-Stätten von Speyer, Worms und Mainz sind ein einzigartiges und außergewöhnliches Zeugnis für die Herausbildung der kulturellen Tradition und Identität des europäischen Judentums. Es gibt kein anderes Objekt mit einer vergleichbaren Bandbreite an Elementen, die eine so tiefgreifende Entwicklung in der Entstehungsphase der fortdauernden kulturellen Tradition des aschkenasischen Judentums bezeugen können. Ihre Gemeindezentren und Friedhöfe bilden einen außergewöhnlichen Komplex früher religiöser Stätten, die in hohem Maße zur Herausbildung einer unverwechselbaren kulturellen Identität beigetragen haben.
Kriterium (vi)
Die SchUM-Stätten Speyer, Worms und Mainz sind als Wiege der aschkenasischen jüdischen Lebenskultur unmittelbar und greifbar mit einer großen Gruppe der jüdischen Diaspora verbunden, die sich im Hochmittelalter in Europa niedergelassen hat. An keinem anderen Ort gibt es eine vergleichbare Anzahl von jüdischen Gemeindezentren und Friedhöfen, die von den kulturellen Leistungen der aschkenasischen Juden zeugen. Die SchUM-Stätten wurden als zentrale Orte jüdischer Identität und der Reflexion über die jüdisch-christlichen Beziehungen betrachtet. Die gemeinsamen Verordnungen (Taqqanot SchUM) aus der Zeit um 1220 bilden den umfangreichsten Korpus jüdischer Gemeindeverordnungen aus dem mittelalterlichen Aschkenas. Die Schriften der SchUM-Gelehrten, -Dichter und -Gemeindevorsteher aus dem 10. bis 13. Jahrhundert zeugen von einem tiefgreifenden Einfluss an einem entscheidenden Punkt der kulturellen Entwicklung des aschkenasischen Judentums. Ihre Schriften sind auch heute noch Teil der jüdischen Tradition.