Die Deutsche UNESCO-Kommission
1. betont mit Nachdruck die Freiheit der Wissenschaft, die — neben Pressefreiheit und Freiheit der Künste — im Grundgesetz, in der Grundrechtecharta der Europäischen Union und im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen verankert ist, aber weltweit in vielen Ländern nicht gewährleistet wird;
2. erinnert daran, dass die UNESCO als die für Wissenschaft zuständige UN-Organisation die Wissenschaftsfreiheit in der UNESCO-Empfehlung über die Stellung der Hochschullehrerinnen und -Lehrer sowie der Erklärung über Hochschulbildung für das 21. Jahrhundert ausdrücklich hervorhebt;
3. stellt fest, dass die Wissenschaftsfreiheit umfasst:
a) das in Themenwahl und Organisation freie Gewinnen von Erkenntnis,
b) den freien Austausch von Personen, Ideen, Daten und Ergebnissen,
c) die freie und transparente Publikation von Ergebnissen,
d) eine öffentliche Grundausstattung und -förderung in Hochschulen und Forschungseinrichtungen, die keine Disziplinen diskriminiert, keinen ökonomischen Nutzennachweis zur Voraussetzung macht und keinen wissenschaftsfremden Interessen untergeordnet ist,
e) eine freie und unabhängige Forschung und Lehre,
f) die freie Wahl der Hochschulleitung unbeschadet ihrer Bestellung;
4. weist darauf hin, dass die Wissenschaftsfreiheit auch eine besondere Verantwortung der Wissenschaft impliziert;
5. weist auch darauf hin, dass die Freiheit der Wissenschaft nach sorgfältiger grundrechtlicher Abwägung nur in solchen Fällen eingeschränkt werden darf, in denen Menschenwürde und Lebensschutz dies erfordern;
6. betont, dass die Wissenschaftsfreiheit aus mehreren Gründen zu gewährleisten ist, nämlich
a) als individuelles Grundrecht und institutionelles Freiheitsrecht und somit als Gut an sich,
b) als Voraussetzung für andere Freiheitsrechte, die die Schaffung, die Aneignung und den Ausdruck von Wissen erfordern, und als Ausdruck menschlicher Aufklärung,
c) als Voraussetzung dafür, dass Bürgerinnen und Bürger in allen Gesellschaften ihre politischen Präferenzen unabhängig von politischen, religiösen, wirtschaftlichen oder sonstigen Interessen ausbilden können,
d) zur Sicherung der Vielfalt in wissenschaftlichen Fragestellungen und Herangehensweisen und damit als Grundlage für Innovation und wissenschaftlichen Fortschritt,
e) als Basis für die internationale Zusammenarbeit in der Wissenschaft und das gemeinsame Finden von Lösungen für globale Herausforderungen,
f) als zwingende Lektion aus der Geschichte, wobei Deutschland eine besondere Verantwortung trägt;
7. drückt ihre Sorge darüber aus, dass die Wissenschaftsfreiheit heute weltweit bedroht ist, und zwar unter anderem durch
a) die Behinderung der Arbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern oder gar ihre Kriminalisierung aus politischen, wirtschaftlichen, religiösen oder ideologischen Motiven,
b) die Infragestellung, Unterdrückung und verfälschende Darstellung von Fakten und wissenschaftlichen Methoden sowie den auf dieser Basis erzielten Ergebnissen,
c) die Beschlagnahmung von Forschungsergebnissen, die Zensur von Datenmaterial und Publikationen und das Verbot von Presseauskünften durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler,
d) die Besetzung von Leitungspositionen von Forschungsinstituten aus politischen Motiven,
e) die Gewährung von Fördermitteln allein für zweckgebundene Forschung, beispielsweise mit Blick auf wirtschaftliche Vermarktung, oder die völlige Streichung öffentlicher Fördermittel, gerade auch für nicht-zweckgebundene, erkenntnisorientierte Grundlagenforschung, auch in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen,
(f) die direkte und indirekte Einschränkung von Forschungsmobilität, beispielsweise durch Ausreise- oder Einreiseverbote für Forscherinnen und Forscher und Studierende;
8. verurteilt diese und andere Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit weltweit;
9. begrüßt die verschiedenen Angebote für gefährdete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und ruft Wissenschaftsorganisationen und staatliche Institutionen und Träger dazu auf, sich für gefährdete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einzusetzen und Förderangebote weiterzuentwickeln, insbesondere auch für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Entwicklungsländern, in Notstandssituationen aufgrund von Konflikten oder Katastrophen, und dabei in geeigneter Form mit der UNESCO zusammen zu arbeiten;
10. verpflichtet sich dazu, sich im Kontakt mit anderen UNESCO-Nationalkommissionen für die Wissenschaftsfreiheit einzusetzen;
11. ruft die Bundesregierung dazu auf, sich in allen geeigneten multilateralen Foren, bilateralen Verhandlungen und auch in der Entwicklungszusammenarbeit für die Wissenschaftsfreiheit einzusetzen; und
12. fordert die Bundesregierung dazu auf, in den Gremien der UNESCO für ein stärkeres Eintreten der Organisation für die Wissenschaftsfreiheit zu werben und mit der UNESCO entsprechend zusammen zu arbeiten.
Erläuterung:
Die Freiheit von Forschung und Lehre gerät zunehmend unter Druck —auch in den wichtigen Forschungsnationen der Welt. Neben Einschränkungen der Forschermobilität werden die Publikationsfreiheit eingeschränkt, wissenschaftliche Daten zensiert und Erkenntnisse ignoriert, die nicht ins politische Weltbild passen.
Wissenschaftsfreiheit ist dabei ein Gut von höchster gesellschaftlicher Relevanz. Damit Gesellschaften auf Herausforderungen angemessen reagieren können, brauchen sie Wissen über diese Herausforderungen, nicht zuletzt auch um entsprechende Lösungsansätze abzuleiten. Voraussetzung dafür, dass Forscherinnen und Forscher bestehende Konzepte hinterfragen, neue Ideen entwickeln oder faktenbasierte Erkenntnisse gewinnen können, ist die freie und politisch unabhängige Wissenschaft. Wissenschaft hat zudem die Aufgabe, jenseits bereits erkennbarer Herausforderungen die Grenzen des Wissens im Sinne einer intellektuellen Infrastruktur für die Zukunft zu erweitern.
Die Bedrohung der Freiheit von Forschung und Lehre in einzelnen Staaten hat Konsequenzen für die Wissenschaft weltweit. Schließlich ist die Wissenschaft heute ein eng verflochtenes internationales System von akademischen Institutionen, Forschungsakteuren und Partnerschaften. Durch freie wissenschaftliche Zusammenarbeit sowie Mobilität von Forschungspersonal und Ideen können zwischenstaatliche Beziehungen auch in Zeiten von Krisen weiter aufrechterhalten und so partnerschaftliche Perspektiven gesichert werden.
Wissenschaft ist international. Weit über 100.000 deutsche Studenten studieren pro Jahr im Ausland, der Anteil der in Deutschland arbeitenden Wissenschaftler mit Herkunft aus dem Ausland liegt inzwischen deutlich über 10 Prozent. In der Schweiz, Kanada und Australien liegt dieser Anteil sogar über oder nahe 50 Prozent, in den USA bei fast 40 Prozent. Mehr als 60 Prozent der deutschen Forscher waren in den letzten 10 Jahren für längere Zeit selbst im Ausland tätig. Fast die Hälfte aller wissenschaftlichen Veröffentlichungen (in Deutschland) entsteht mittlerweile in internationaler Zusammenarbeit.