Kulturelle Rechte: ein Schlüssel zur Förderung von Global Citizenship

Ein Beitrag von Farida Shaheed, Soziologin und Aktivistin für Frauenrechte

Kultur ist nie statisch. In einer sich verändernden Welt wird sie ständig (neu) geschaffen als Reaktion auf Herausforderungen und Möglichkeiten und wird zum Katalysator für neues Denken und neue Schöpfungen.

In unserer immer stärker globalisierten, komplexen und digitalisierten Welt, in der manche sofort Verbindung zueinander aufnehmen können, andere aber ausgeschlossen sind, in der technologische Fortschritte erhebliche Vorteile bieten, aber unseren gesamten Planeten gefährden, in dieser Welt ist es unerlässlich, Energien zu aktivieren, um unser gemeinsames Menschsein anzuerkennen und eine gemeinsame Zukunft zu fördern. Diskussionen sind nur fruchtbar, wenn Dialog und Austausch in kultureller Vielfalt gründen und verschiedene Weltanschauungen zusammenbringen. Die Vorstellung einer globalen Bürgerschaft, das Gefühl, dass wir als Menschen alle ein und derselben Gemeinschaft angehören, öffnet den Blick nach vorne, stellt uns aber auch vor Herausforderungen, weil wir dafür die kulturellen Normen und Bezugspunkte, die wir als Einzelne, Gemeinschaften und Staaten für selbstverständlich halten, noch einmal überdenken müssen.1 Da zwischen Kultur und kulturellen Rechten eine symbiotische Beziehung besteht, sind kulturelle Rechte unverzichtbar, wenn es darum geht, ein neues Selbstverständnis im Rahmen von Global Citizenship zu erreichen.

Der Vorstellung einer gemeinsamen und miteinander verbundenen globalen Zukunft liegt ein gegenseitiges Verständnis zugrunde. Kultur kann dieses Verständnis und den Zusammenhalt fördern oder behindern. Sie ist das Prisma, durch das wir unsere menschliche, natürliche und die von uns erzeugte Umwelt wahrnehmen (und durch das wir wahrgenommen werden), mit Hilfe der Kultur verstehen wir unser Umfeld, reagieren darauf und treten mit anderen Menschen in Kontakt; Kultur ist das Vehikel, das wir nutzen, um die Bedeutungen zu artikulieren, die wir unserem Leben und der Welt geben. Kultur verkörpert unser kollektives vielfältiges Menschsein, über sie identifizieren sich Menschen auf vielerlei Weise, indem sie gleichzeitig an verschiedenen Gemeinschaften und deren kulturellen Werten teilhaben, basierend auf einer Vielzahl von Faktoren wie Ethnizität, Herkunft, Religion, Glaube, Weltanschauungen, Sprache, Geschlecht, Alter, Gesellschaftsschicht, Beruf, Interessen und geographische Lage. Kultur ist nie statisch. In einer sich verändernden Welt wird sie ständig (neu) geschaffen als Reaktion auf Herausforderungen und Möglichkeiten, und wird zum Katalysator für neues Denken und neue Schöpfungen. Folglich bedeuten kulturelle Prozesse stets auch die Auseinandersetzung von und mit Bedeutungen, Werten und Lebensweisen, die um Akzeptanz ringen.2

Auf sozialer Ebene verlangt Global Citizenship, dass wir als Individuen über das Zugehörigkeitsgefühl hinausgehen (uns womöglich davon lösen), das uns seit frühester Kindheit begleitet, um ein weiter gefasstes Verständnis von uns selbst und dem Menschsein allgemein zu erlangen. Für Staaten besteht die Herausforderung darin, dass Nationalstaaten zwar auf einem bestimmten Territorium einer »Nation« gründen, die Grenzen von Staaten und Nationen jedoch nicht übereinstimmen (es gibt mindestens dreizehn Mal so viele Nationen wie Staaten, die bei den Vereinten Nationen vertreten sind).3 Folglich versuchen Projekte zur Nationsbildung, eine imaginäre Gemeinschaft durch Narrative zu fördern, die über eine regionale Gemeinschaftsidentität hinausgehen (oder mehrere Identitäten verschmelzen lassen). Die nationale Identität (Nationalität) wird über eine breite Auswahl an Symbolen, Narrativen und Modalitäten vermittelt, etwa in Form von nationalen Feiertagen, Liedern und Festen, identitätsstiftenden Objekten an öffentlichen Orten (zum Beispiel Statuen, Fahnen und andere Symbole), in Narrativen zum Thema »Wer sind wir?« im Geschichtsunterricht, in Museen und in der Erinnerungskultur. Dabei handelt es sich normalerweise um subjektive Narrative, die alle anderen gemeinschaftlichen Identitäten in einem Staat zusammenfassen oder ignorieren. Parallel dazu bilden jedoch auch andere Gemeinschaften ihre Identitäten aus, verweben Erzählungen, Mythen und Legenden mit der Geschichte. Diese nationalen und gemeinschaftlichen Identitäten werden Teil des kulturellen Erbes, das an nachfolgende Generationen weitergegeben  wird und Bezugspunkte bildet, anhand derer Jüngere ihre kulturelle Identität ausbilden können.

Wenn uns Bildung »ein grundlegendes  Verständnis« vermitteln soll, dass wir »als Bürger zusammen in einer globalen Gemeinschaft verbunden und unsere Herausforderungen vernetzt sind«, wie es der UN-Generalsekretär in der Global Education First Initiative 2012 formuliert, dann muss sich in unserem Bildungssystem viel ändern. Für die Akzeptanz von Global Citizenship müssen wir vor allem die Vermittlung von Geschichte an unseren Schulen überarbeiten. Die Vergangenheit prägt die Gegenwart. Staatliche und nichtstaatliche Akteure (re)interpretieren die Geschichte für ihre aktuellen Ziele ständig neu. Die Bedeutung der Geschichte als kulturelles Erbe liegt nicht in der Vergangenheit, denn nur die Gegenwart weist den Weg in die Zukunft. Welche enorme Bedeutung Geschichte für  die Identität, das Zugehörigkeitsgefühl und  die Beziehung zu anderen und zum Staat hat, erlebte ich bei meiner Arbeit als UN-Sonderberichterstatterin zu kulturellen Rechten immer wieder. In jedem Land, das ich besuchte, traf ich auf Gruppen, die sich bemühten, ihre Geschichte wiederzufinden oder zu dokumentieren, sie setzten sich dafür ein, dass ihre Geschichte von anderen anerkannt wurde, oder stellten die vorherrschende Interpretation der Geschichte infrage, die oft auch die Erinnerungskultur prägte.

Geschichte ist immer unterschiedlichen Interpretationen unterworfen. Verschieden positionierte Gruppen haben vielleicht eine gemeinsame Geschichte, hegen aber völlig unterschiedliche Ansichten darüber, was ein und dasselbe Ereignis bedeuten kann. Selbst wenn die Fakten unstrittig sind, kann über die moralische Legitimation und die Frage, wer recht hatte und wem Unrecht getan wurde, erbittert gestritten werden. Eine einzige homogenisierende Interpretation, die in der Schule gelehrt wird, lässt die Vielfalt verblassen. Wenn das kulturelle Erbe all jener ignoriert wird, die nicht zur dominanten Gruppe (die normalerweise auch die Mehrheit stellt) gehören, entgehen den Mitgliedern der dominanten Gruppe wichtige Möglichkeiten, die Komplexität ihres Landes / ihrer Ge- sellschaft zu verstehen, außerdem wird der Raum für Perspektiven und Debatten beschnitten.

Historische Interpretationen – sowohl innerhalb wie außerhalb der Schule – können Stereotypen über marginalisierte Gruppen ignorieren oder vermitteln, bestätigen oder stärken, etwa über Minderheiten, indigene Völker, Frauen oder sozial Schwache. Die singuläre offizielle Auslegung, die in der Schule vermittelt wird, kann im Widerspruch stehen zu den Narrativen privater Gemeinschaften, die aus anderen Quellen stammen. Wenn der Bruch zu groß ist, können sich Gemeinschaften aufgrund der fehlenden pluralistischen Geschichte vor den Kopf gestoßen fühlen, was dazu führt, dass Menschen in derselben Gesellschaft praktisch in Paralleluniversen leben. In Gesellschaften, die über Erfahrungen mit internationalen oder internen Konflikten verfügen, mit Kolonialisierung, Sklaverei oder gravierenden sozialen Spaltungen, wächst die Komplexität. Nach oder während eines akuten Konflikts wird die Geschichte möglicherweise in einer Art gelehrt, die den Krieg in den Bereich der Kultur und Bildung überträgt und so den Frieden und auch das Entwicklungspotenzial von Global Citizenship behindert.

Eine Annäherung an historische Narrative einschließlich der Geschichtsschreibung und -vermittlung, die die Menschenrechte berücksichtigt, erfordert eine Vielzahl von Perspektiven, die stetige Überprüfung  von Annahmen und den Austausch von Ansichten. Die Geschichtsvermittlung sollte nicht darauf abzielen, eine vorab festgelegte nationale Identität einzutrichtern, sondern kritisches Denken und ein Verständnis für die Realitäten und Perspektiven anderer zu entwickeln. Ein Gefühl für Global Citizenship lässt sich leichter vermitteln, wenn man sich vom vorgegebenen Rahmen umstrittener Darstellungen politischer Gewinne und Verluste löst und andere Bereiche wie zum Beispiel Kunst, Technik und ökologische Entwicklung miteinschließt, die die Verflechtung unserer menschlichen Existenz illustrieren. Nur wenn die Geschichtsvermittlung kritisches Denken und einen mehrperspektivischen Ansatz fördert, kann sie zu einem Bewusstsein für Global Citizenship beitragen. Damit die Vorstellung einer Global Citizenship Verbreitung findet, müssen Kinder die Möglichkeit haben, ihre eigene historische Perspektive zu entwickeln, unabhängig von der Gesellschaft, der sie angehören.

Der Geschichtsunterricht an Schulen ist nur eine Möglichkeit zur Vermittlung historischer Narrative. Wenn das Konzept der Global Citizenship Fuß fassen soll, müssen die kulturelle Vielfalt und die Vielzahl historischer Narrative zwischen und innerhalb von Gemeinschaften in breit angelegte Maßnahmen eingebettet werden. Das Ziel muss sein, einzelnen Stimmen Gewicht zu geben, die Menschenrechte zu akzeptieren, die Übermittlung und Ausgestaltung gemeinsamer kultureller Sitten und Gebräuche zu fördern und harmonische und friedliche Beziehungen zwischen Einzelnen und Gruppen aufzubauen. Zu diesem Zweck müssen Staaten bei der Nationsbildung den Frieden fördern, gegenseitiges Verständnis zwischen Menschen und Gemeinschaften aufbauen und Räume bieten, wo die verschiedenen Gemeinschaften ihre eigene Perspektive auf ihre Geschichte, Identität und ihr kulturelles Erbe präsentieren können.

Für eine breiter angelegte Vorstellung vom gemeinsamen Menschsein müssen wir die Begrenzungen des enger gefassten kollektiven Zugehörigkeitsgefühls überwinden. Neue vielstimmige Narrative in Verbindung mit interkulturellen Dialogen basierend auf kulturellen Rechten, die gewährleisten, dass alle Zugang zu kulturellen Werken haben, sich daran erfreuen und darauf Bezug nehmen, ihre Identität und Kreativität zum Ausdruck bringen, am kulturellen Leben teilhaben und dazu beitragen, können als Katalysator für einen derartigen Prozess dienen. Dabei sollte man bedenken, dass es nie abstrakte »Kulturen« oder »Zivilisationen« sind, die sich in interkulturellen Dialogen begegnen, sondern Personen, die an bestimmten kulturellen Bezügen festhalten, ihre Interpretation beitragen und neue Ideen und kreative Ausdrucksmöglichkeiten präsentieren. Es ist unabdingbar, dass die Politik die Räume dafür schafft.

Außerhalb der Schule werden wichtige Narrative der eigenen Identität in stetigen Erinnerungsprozessen sowie in Museen und im öffentlichen Raum übermittelt. Eine kollektive Wiedergutmachung für massenhafte oder gravierende Menschenrechtsverletzungen kann in Form rechtlicher wie nicht-gesetzlicher Maßnahmen erfolgen, die im oft übersehenen Bereich des Symbolismus und des Gedenkens angesiedelt sind. Ganze Kulturen und symbolische Landschaften werden durch Denkmäler und Museen gestaltet, die soziale Interaktionen, eigene Identitäten und die Wahrnehmung des / der Anderen wiedergeben, aber auch positiv wie negativ beeinflussen. Die Art und Weise des Erinnerns hat Konsequenzen, die weit über das Thema Wiedergutmachung hinausgehen. Die Vergangenheit soll die Menschen informieren, aber nicht definieren, »Strafverfahren wie Wiedergutmachungsmaßnahmen müssen in einen größeren Prozess eingebunden werden«, etwa in Form spezieller kultureller Interventionen, die helfen können, Institutionen umzugestalten und zu Veränderungen sowohl bei kulturellen Praktiken wie individuellen Perspektiven anzuregen.4 Gleichzeitig muss man auf öffentliche Räume und die Bemühungen achten, die unternommen werden, um Zugang zu öffentlichen  Räumen zu gewähren, die sowohl vielstimmige Narrative als auch einen entscheidenden Schritt zum Aufbau von Global Citizenship bieten.

Die Menschen müssen Global Citizenship wollen, sie müssen anstreben, Teil des »Raumschiffs Erde« zu werden, um es mit dem durch Richard Buckminster Fuller bekannt gewordenen Begriff zu formulieren. Dieses Streben ist eine kulturelle Technik und nicht nur eine individuelle Tätigkeit: Wünsche und Sehnsüchte werden von Gemeinschaften mit gemeinsamen kulturellen Werten geprägt und prägen sie wiederum selbst; sie verkörpern Konzepte, wie ein Leben in Würde aussehen kann. Wenn sich ein neues weltweites Bewusstsein entwickeln soll, müssen sich alle Kulturen ändern, wir müssen neue Ideen und Vorgehensweisen übernehmen, und die Idee von Global Citizenship muss das Streben nach einer besseren und nachhaltigen Zukunft für alle prägen. Das ist nur möglich, wenn man die notwendigen  Voraussetzungen dafür schafft, dass sich jeder kritisch mit sich und der Welt auseinandersetzt, die er bewohnt. Außerdem müssen die Möglichkeit und die Notwendigkeit bestehen, zu Konzepten von Global Citizenship beizutragen, sie zu hinterfragen und zu überprüfen, unabhängig von Grenzen. Und schließlich muss man darauf achten, dass die Sprache, in der die Konzepte zur Global Citizenship diskutiert, formuliert und definiert werden, keine Barrieren bildet, damit  alle gleichermaßen daran teilhaben und dazu beitragen können. Ungleiche Machtverteilung beeinflusst die Fähigkeit von Einzelnen und Gruppen, effektiv zur Identifikation, Entwicklung und Interpretation dessen beizutragen, was als »gemeinsame Kultur« betrachtet werden sollte; ein gemeinsames kulturelles Erbe und Global Citizenship für das »Raumschiff Erde« müssen daher auf der völligen Gleichstellung aller basieren.

Aus dem Englischen von Heike Schlatterer
 
1 UNESCO: Global Citizenship  Education: Topics and Learning Objectives; UNESCO: Paris 2015, S. 14
2 Internetquelle: www2.ohchr.org/english/ bodies/hrcouncil/docs/14session/ A.HRC.14.36_en.pdf
3 Siehe: Ephraim Nimni, Collective dimensions of the right to take part in cultural  life, Beitrag für das Committee on Economic, Social and Cultural Rights, allgemeine Diskussion über das Recht, am kulturellen Leben teilzuhaben, E/C.12/40/17, S. 4
4 Siehe: Pablo De Greiff, On making the invisible visible: the role of cultural interventions in transitional justice processes, in: Transitional Justice, Culture and Society: Beyond Outreach, Clara Ramírez-Barat (Hg), New York, Social Science Research Council 2014

 

Dr. Farida Shaheed, geboren in Pakistan, ist Soziologin und Aktivistin für Frauenrechte. Von 2012 bis 2015 war sie Sonderberichterstatterin im Bereich kulturelle Rechte der UN. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen, darunter Two Steps Forward, One Step Back? Women of Pakistan; The Other Side of the Discourse: Women’s Experiences of Identity, Religion and Activism in Pakistan; Purdah and Poverty in Pakistan; and Identity and the Experience of the Network, Women Living Under Muslim Laws.

Dieser Text ist dem Buch "Global Citizenship - Perspektiven einer Weltgemeinschaft", Roland Bernecker/ Ronald Grätz (Hg.), Steidl entnommen.