Neues Welterbe 2023

Neues Welterbe würdigt jüdisch-mittelalterliche Monumente Erfurts

Wer wissen möchte, wie sich jüdisches Leben im Mittelalter in Deutschland abgespielt hat, sollte nach Erfurt schauen. Innerhalb weniger Jahrzehnte haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Thüringer Landeshauptstadt die vollständige Infrastruktur einer jüdischen mittelalterlichen Gemeinde erschlossen – und sogar einen echten Schatz gehoben. Seit diesem Jahr gehören die Alte Synagoge, ein jüdisches Ritualbad und ein historisches Wohnhaus zum UNESCO-Welterbe der Menschheit.

Film: Erfurts jüdisches Erbe
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Als Alexander Nachama 2018 zum ersten Mal nach Erfurt kam, fiel ihm im Stadtbild etwas Ungewöhnliches auf: Das jüdische Erbe der Stadt ist überall präsent. An zahlreichen Straßenecken weisen Wegweiser und Infotafeln auf historische jüdische Orte hin. „Das findet man nicht in vielen Städten in Deutschland“, sagt Nachama, Landesrabbiner der Thüringer Gemeinde. „Ich war positiv überrascht, dass das jüdische Erbe so ein fester Bestandteil der Stadt ist.“

Noch 30 Jahre zuvor war das ganz anders. Das jüdische Erbe Erfurts war nicht erschlossen und selbst Fachleuten kaum bekannt. Die Monumente: unsichtbar hinter jüngeren Mauern verborgen. Ein kurioses Bild auf einer Infotafel an der Alten Synagoge illustriert das. Es zeigt den Gastraum eines Restaurants um die Wende herum: niedrige weiße Decken, vertäfelte Wände, Möbel aus rustikal dunklem Holz. Hier nimmt die Entdeckung des mittelalterlichen jüdischen Erbes ihren Anfang.

Alte Synagoge kurz vor der Wende wiederentdeckt

1988 klopfte Rosita Peterseim an die Tür der Gaststätte. Die Mitarbeiterin des Denkmalamts suchte nach Überresten einer Synagoge, die in alten Quellen verzeichnet war. Denkmalämter in Thüringen waren gebeten worden, zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht nach jüdischen Monumenten zu forschen, eine Zusammenarbeit mit Israel war geplant. Petersheim wurde fündig. „Wenn man durch das Fenster der Herrentoilette in einen kleinen Gang kletterte, sah man von außen die Türgewänder der Synagoge – und unterm Dach ein Stück einer Fensterrose. Aber das war alles“, erzählt Dr. Maria Stürzebecher, Kuratorin der Alten Synagoge und eine der beiden Welterbe-Beauftragten in Erfurt. Peterseim blieb auch nach der Wende beim Denkmalamt, und als auf dem Gelände eine neue Großgastronomie entstehen sollte, überzeugte sie die Stadt, ihr Vorkaufsrecht einzusetzen. Ein Glücksfall, wie sich bei der Freilegung herausstellte: Die mittelalterliche Synagoge von Erfurt hat fast komplett überdauert und gilt heute als älteste erhaltene Synagoge Europas. Teile der Westfassade stammen aus dem späten 11. Jahrhundert, der Rest ist um 1270 errichtet.

Wer das Gebäude heute betritt, hat es nicht schwer, gedanklich ins Mittelalter zu reisen. Den dunklen Holzbalken an der Decke ist ihr Alter anzusehen, ebenso den unverputzten Steinwänden. Eine Projektion zeigt im gedämmten Licht, wo einst der Thoraschrein stand. Er wurde nach einem verheerenden Pogrom 1349 zerstört, die Synagoge in ein Lager umgewandelt. Heute ist sie als Museum wieder ein zentraler Ort, um die Geschichte der Erfurter Jüdinnen und Juden zu erzählen. Im Obergeschoss sind wertvolle mittelalterliche Handschriften der Gemeinde ausgestellt, der Keller ist dem Erfurter Schatz gewidmet.

Schatzfund bei Bauarbeiten

Auch beim Fund des Schatzes war viel Glück im Spiel. Bauarbeiter fanden ihn 1998 in einem Keller unweit der Synagoge. 30 Kilogramm Gold und Silber hatten hier verborgen rund 650 Jahre überdauert: 14 Silberbarren, mehr als 600 Schmuckstücke gotischer Goldschmiedekunst, silberne Becher und Schalen sowie 3.141 Silbermünzen. In der Mitte des Synagogenkellers ist das Highlight ausgestellt: ein aufwendig gearbeiteter jüdischer Hochzeitsring mit der hebräischen Inschrift „Masal Tov“.

Drei Jahre hat Stürzebecher den Schatz erforscht – und dabei auch Details über seine Besitzer zu Tage gefördert. „Auf dem Grundstück lebte der Bankier Kalman von Wiehe mit seiner Familie. Der Schatz war vermutlich sein ‚Notgroschen‘ – sein Vermögen hat gearbeitet“.  Vermutlich haben die Wiehes den Schatz 1349 kurz vor dem Erfurter Pogrom hastig versteckt. Und nie wieder hervorholen können – Stürzebecher geht davon aus, dass niemand den Pogrom überlebt hat.

Verheerender Pogrom vernichtet die jüdische Gemeinde

Viel Detektivarbeit war nötig, um die Geschichte des Schatzes und der Erfurter Gemeinde zu rekonstruieren. Mittelalterliche Steuerlisten ermöglichten es, die Lage einzelner Häuser und ihrer Bewohner in der Stadt zu verorten. Der Pogrom von 1349 lässt sich anhand von Gerichtsakten rekonstruieren. Auf einer Multimedia-Tafel im Erdgeschoss der Alten Synagoge ist nachzulesen, wo vorab konspirative Treffen stattgefunden hatten, wie der Überfall begann und wo sich Gruppen postiert hatten, um den jüdischen Bewohnern des Viertels die Fluchtwege abzuschneiden. Dass ein spontaner Mob den Pogrom angezettelt hat, hält Stürzebecher für unwahrscheinlich. „Wir konnten Brandspuren im ganzen Quartier nachweisen“, sagt die Welterbe-Beauftragte. „Deshalb glaube ich nicht, dass sich die Nachbarschaft am Pogrom beteiligt hat – Feuer macht keinen Unterschied zwischen jüdischen und christlichen Häusern.“ Am Ende habe vor allem der Stadtrat profitiert, in dessen Besitz die jüdischen Grundstücke fielen – und der eigentlich zum Schutz der jüdischen Familien verpflichtet war.

Entdeckung des jüdischen Ritualbads in letzter Minute

Wie eng jüdische und christliche Familien im mittelalterlichen Erfurt zusammengelebt haben, zeigt ein Stadtplan an einer Mauer unweit des Gera-Ufers. In jedem Straßenzug lebten Angehörige der beiden Religionen Tür an Tür. Hinter der Mauer liegt die Mikwe – ein jüdisches Ritualbad und fester Bestandteil jüdischer Gemeinden der Zeit.

Der Bautyp der Erfurter Mikwe ist weltweit einzigartig. Ihre älteste Mauer stammt vom Anfang des 12. Jahrhunderts, die übrigen wurden bei einer Erweiterung Mitte des 13. Jahrhunderts errichtet. Im Inneren maß das kleine Steinhaus etwa drei mal neun Meter. Besuchergruppen können heute noch den Vorraum der Mikwe betreten, auch das tiefer gelegene Wasserbecken ist im Scheinwerferlicht gut sichtbar. Die Treppenstufen und der historische Eingang hingegen sind zerstört, ebenso große Teile des Gewölbedachs. Als die „zweite Gemeinde“ 1452 aus der Stadt vertrieben wurde, schüttete man das Wasserbecken zu und nutzte die Mikwe als Keller. Der obere Gebäudeteil fiel wenig später einem Brand zum Opfer. Und die Mikwe geriet in Vergessenheit – bis 2007.

Der Einsturz einer Ufermauer der Gera hatte in dem Jahr den Anlass gegeben, um die flussnahen Grünflächen neuzugestalten. Zunächst musste aber die Landesarchäologie sicherstellen, dass keine historischen Monumente im Boden lagen. „Wir wussten aus Schriftquellen, dass hier irgendwo eine Mikwe sein könnte“, sagt Dr. Karin Sczech. Die Archäologin leitete damals die Baubegleitung, heute ist sie eine der beiden Welterbe-Beauftragten in Erfurt. Einer der untersuchten Keller stach bereits durch seine Bausubstanz heraus. Am letzten Arbeitstag vor Baubeginn fielen Sczech in den Ecken des Kellers sogenannte Kragsteine auf, die normalerweise bei Gebäuden als Stützen dienen. „Kragsteine in einem Fußboden, das ergab keinen Sinn. Also legten wir einen Schnitt an und stießen auf große Sandsteinblöcke. Da war ich sicher: Das muss die Mikwe sein“, erzählt Sczech. Die Baupläne wurden gestoppt, und in der Stadt war schnell klar, was der Fund der Mikwe bedeutete: In Erfurt ist die komplette Infrastruktur der mittelalterlichen jüdischen Gemeinde erhalten geblieben.

Mittelalterliche Wohnkultur mit Blumendecke

Neben Synagoge und Mikwe gehört auch ein ehemaliges Wohnhaus dazu. Das „Steinerne Haus“ fügt sich im Altstadtkern direkt an die Tourismuszentrale. Neben deren weißer, mit Blumenkästen behängten Fassade sticht die des Steinernen Haus heraus: Der Putz ist uneben, an vielen Stellen liegt das unregelmäßige Mauerwerk frei. Vier verschiedene Bauphasen zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert haben hier ihre Spuren hinterlassen, nur die Fenstereinfassungen sind neuer. Vom Keller bis zum Giebel ist das Steinerne Haus damit eins der wenigen erhaltenen Wohnhäuser aus dem Spätmittelalter.

Im Inneren zeigt sich, wie wohnlich es in dem um 1200 errichteten Gebäude einst ausgesehen haben muss. An der Decke im ersten Stock ist noch die Verzierung mit bunten Blumen erkennbar, auf die Dachbalken sind kunstvolle Ranken gemalt – es ist die älteste Verzierung dieser Art nördlich der Alpen in einem profanen Bauwerk. Dass hier eine jüdische Familie gewohnt hat, ist nicht an der Architektur zu erkennen, lässt sich aber den mittelalterlichen Steuerlisten entnehmen. Das legt nahe: Jüdische und christliche Familien lebten nicht nur Tür an Tür, sondern teilten auch eine gemeinsame Wohnkultur.

Jüdisches Erbe regt zu Begegnungen in der Gegenwart an

In ihrer Gesamtheit zeigt die neue Welterbestätte auf einzigartige Weise, wie sich jüdisches Leben im Mittelalter in Deutschland abgespielt hat – mit allen Höhen und Tiefen. Und Erfurt hat noch mehr zu bieten: Geschützt im Boden bleiben soll etwa die Synagoge der zweiten Gemeinde, die nach dem Pogrom in Erfurt Fuß gefasst hatte. An ihrer Stelle soll ein Gemeindezentrum entstehen, in dem sich Besucherinnen und Besucher über das Welterbe informieren können. Auch die jüdische Gemeinde wird wieder in der Altstadt präsent sein. Unter anderem ist ein koscheres Café geplant, in dem jüdische und nicht-jüdische Gäste zusammenkommen.

„Ich hoffe sehr, dass das Welterbe dazu beiträgt, dass jüdisches Leben wieder ein sichtbarer Teil der Stadt wird“, sagt Landesrabbiner Nachama. „Jüdische Gemeinden sind in Thüringen seit mehr als 900 Jahren präsent. Ich wünsche mir, dass wir, wenn wir über jüdisches Leben in Thüringen sprechen, nicht etwas Antikes oder Exotisches im Sinn haben, sondern etwas, das eigentlich schon immer dazugehört hat – bis in die Gegenwart.“

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