Globale Kooperation oder globale Unordnung?

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Dirk Messner, Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE)

Madeleine Albright hat sich 2014 zur aktuellen Weltlage geäußert: "The world is a mess". Die ZEIT titelte in ihrer Ausgabe vom 14. August 2014: "Verwirrte Welt". Wolfgang Ischinger, Präsident der Münchener Sicherheitskonferenz, hat zu unterschiedlichen Anlässen davon gesprochen, dass wir derzeit in einer "Ära des Weltordnungszerfalls" lebten.

Damit sind wir auch schon mitten drin in der Debatte über die Zukunft internationaler Kooperation und deren Perspektiven, Spielräume und Herausforderungen. Nach der weltweiten Finanzmarktkrise, ausgelöst im Herbst 2008 durch die Insolvenz von Lehman Brothers, erleben wir nun erneut eine Phase weltweiter Turbulenzen, dieses Mal ausgelöst durch eine Serie sicherheitspolitischer Krisen (Nordafrika und der Nahe Osten, Ukraine, Mali, Zentralafrikanische Republik) und durch große Migrations- und Fluchtbewegungen, die längst auch Europa erreichen. Weltweite Zusammenarbeit, ohne die globale Interdependenzen unbeherrschbar werden, wird nur möglich sein, wenn aus Bürgern Schritt für Schritt Weltbürger werden, die nicht nur eigene Interessen und Leitbilder, sondern auch die Sichtweisen "der Anderen" berücksichtigen.

Im Folgenden wird argumentiert, dass Bausteine von Weltbürgersinn durchaus in unseren Gesellschaften entstehen – zugleich bedrohen gefährliche, neonationalistische Dynamiken Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und internationale Kooperation. Das hatten sich die Beobachter vor einem Vierteljahrhundert, als die Mauer fiel und der Kalte Krieg zu Ende ging, ganz anders vorgestellt. Friedensdividende, Zeitalter der Kooperation, weltweite Ausbreitung von Demokratie und Marktwirtschaft  waren die hoffnungsvollen Stichworte. Die Erwartungen im Westen bestanden darin, nun könne eine Art "upscaling of the West" rund um den Erdball stattfinden. Ähnliche Hoffnungen hatte auch Immanuel Kant gehegt, als er 1795 vor dem Hintergrund  der sich entfaltenden Aufklärung, der Entwicklung der Ideen von Menschenrechten, Demokratie, Freiheit, sozialen Rechten seine Schrift "Zum ewigen Frieden" vorlegte, in der das visionäre Konzept einer Weltbürgergesellschaft entworfen wird – 1795! Gut 150 Jahre bevor im Dezember 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündet wurde. Manchmal dauert die Realisierung kluger Ideen lange. Kant erhoffte sich 1795 eine rasche Universalisierung und Globalisierung der Ideen der Aufklärung in einer auf demokratischen Staaten, internationalem Recht und weltweitem Interessenausgleich basierenden Weltbürgergesellschaft.

Ein kühner Traum – der in den aktuellen Diskussionen über die Realisierungschancen der globalen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) der 2030-Agenda  und über das Pariser Klimaabkommen seine Fortsetzung findet. Kant konnte sich 1795 nicht vorstellen, dass im Anschluss an die "Erfindung" der Menschenrechte  und die Entwicklung moderner Nationalstaaten aggressiver Nationalismus zum Treiber der Weltgeschichte werden sollte; mit den zwei Weltkriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als traurigen Höhepunkten.

Die Geschichte ist kein linearer Lernprozess. Nach 1989 hat sich Vieles positiv entwickelt: die ökonomische Erfolgsgeschichte Asiens, die Demokratisierungsdynamik  in Osteuropa, Lateinamerika und auch Afrika, der abnehmende Anteil absolut armer Menschen an der Weltbevölkerung, die schrumpfende Zahl von "Least Developed Countries", neu entstehende Mittelschichten in den Schwellenländern, die atomare Abrüstung. Doch die aktuelle internationale Krisenlage, sich weltweit abzeichnende neo-nationalistische Strömungen und das Widererstarken von "Our-Nation-First-Ideologien", die angesichts der realen globalen Interdependenzen anachronistisch erscheinen und friedensgefährdend sind, zeigen auch, dass sich nach dem Ende des Kalten Krieges keine tragfähige Weltordnung und noch keine Muster internationaler Kooperation herausgebildet haben, die weltumspannend Stabilität, Sicherheit, Wohlfahrt und Demokratie garantieren könnten.

Von der G20, auf die viele Experten große Hoffnungen gesetzt haben, ist derzeit zu diesen Krisendynamiken zu wenig zu hören und zu sehen. Kein Wunder, denn das G20–Land Russland und der Westen befinden sich mit der Ukraine-Krise in einer Phase der Wiederbelegung des Kalten Krieges; und ein Blick in die ökonomische Kraftzentrale Asien zeigt, dass dort die G20-Staaten China, Indien, Japan, Südkorea um regionale Vorherrschaft und die Eindämmung der jeweils Anderen ringen – der Historiker Jürgen Osterhammel hat die Dynamiken im aktuellen Asien jüngst mit der Situation in Europa vor dem Ersten Weltkrieg verglichen.

"The world is a mess". Die entscheidenden Akteure finden nicht (vielleicht sollte man sagen: noch nicht?) zusammen. Zugleich gilt, so viel globale Interdependenz, die die Entwicklungschancen  der Menschen weltweit beeinflusst und prägt, war nie: Dass in den öffentlichen Debatten Europas die Krisenherde dieser Welt so intensiv verfolgt werden, ist ein Indikator für weltumspannende normative, moralische Interdependenzen. Die Verantwortung für Menschenrechte, Linderung von Not, Solidarität und Zusammenarbeit beschränkt sich nicht mehr nur auf die eigene Gesellschaft, Europa oder den Westen. Unsere Gesellschaften sind empört über massives Unrecht und Krisen, die rund um den Erdball auftreten. Dies ist ein Hauch dessen, was Kant emphatisch die Weltbürgergesellschaft genannt hat. Zugleich findet auch das genaue Gegenteil statt. Dass Europa mit seinen gut 500 Millionen Einwohnern nicht dazu in der Lage ist, eine Million Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten aufzunehmen, ist eine deprimierende Erfahrung für all diejenigen, die in Europa das Laboratorium für Global Governance (Weltordnungspolitik) gesehen haben.

Ebola und andere Krankheiten machen nicht vor nationalen Grenzen halt; regionale Krisenherde bedrohen die internationale Sicherheit; die zukünftigen Konsummuster der neu entstehenden Mittelschichten in den Nicht-OECD-Ländern werden entscheidend sein für die Dynamik des Klimawandels. Den Bürgern des Westens kann nicht egal sein, wie andere Gesellschaften sich entwickeln. Dies gilt auch andersherum, aus der Sicht der Entwicklungs- und Schwellenländer gilt: die Treibhausgasemissionen und der Ressourcenverbrauch der OECD-Staaten können das Erdsystem überfordern, Handelsabkommen (TTIP) und instabile Finanzmärkte westlicher Staaten können sozioökonomische  Probleme in nicht-westlichen Ländern verstärken. Außerdem hat die jahrzehntelange Unterstützung autokratischer Herrscher in der arabischen Welt durch westliche Staaten antiwestliche Ressentiments hervorgebracht, die es liberalen Kräften in der arabischen Welt heute schwermachen, sich gegenüber islamistischen Akteuren Gehör zu verschaffen. Es gibt wechselseitig viele gute Gründe für Kooperation zur Bearbeitung wechselseitiger Abhängigkeiten.

Und nicht zuletzt: Die Ausbreitung von "Weltsichten". Es gibt immerhin ein keimendes Bewusstsein davon, dass bald neun Milliarden Menschen wohl werden lernen müssen, eine wachsende Zahl von Global Commons (globale Gemeinschaftsgüter, Allmendegüter) gemeinsam zu stabilisieren, zu erhalten, zu nutzen (das Weltklima, die weltweit verfügbaren landwirtschaftlichen Flächen, die Wald- und Wasserressourcen des Planeten, die internationalen Finanzmärkte) und andere Global Commons überhaupt erst einmal aufzubauen (eine globale Friedensarchitektur, globale Regelwerke für den Datenschutz als Grundlagen der globalen IT-Wirtschaft und für den Schutz der Demokratien). Dies deutet darauf hin, dass die Grundlagen für internationale Kooperation wachsen. Die im Herbst 2015 verabschiedete 2030-Agenda  und das Pariser Klimaabkommen sind Hoffnungszeichen. An deren Umsetzung sollte sich insbesondere Europa engagiert beteiligen.

Die internationale Kooperation kommt aber nur schwer voran, vor allem, weil das 21. Jahrhundert nicht einfach eine Verlängerung der Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts darstellt. Wir sind mit Problemkonstellationen konfrontiert, die durch inkrementellen Wandel und etablierte Problemlösungskonzepte kaum zu lösen sind. Ich sehe sechs zentrale Baustellen:

1. Wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand in den Grenzen des Erdsystems. Die Menschen sind zur stärksten Veränderungskraft des Erdsystems geworden.  Kipp-Punkte im Erdsystem könnten die menschliche Zivilisation gefährden. Eine Nachhaltigkeitstransformation ist notwendig. Die Problemlagen  sind bekannt  – bis 2070 muss die Weltwirtschaft ohne Treibhausgasemissionen auskommen; zentrale Ressourcen wie Phosphor müssen zu diesem Zeitraum vollständig in Kreisläufen geführt werden; langlebige Stoffe wie Plastik müssen ebenfalls zu 100 Prozent in Kreisläufen geführt werden oder vollständig ökologisch abbaubar sein; der Ozeanversauerung muss Einhalt geboten werden, die Reduzierung der weltweiten Waldflächen und landwirtschaftlich nutzbaren Flächen muss bereits bis 2030 gestoppt werden. Bislang gehen die entscheidenden Trends noch in die falsche Richtung. Wie kann der Übergang zu einer dekarbonisierten, ökosystemschonenden, globalen Kreislaufwirtschaft gelingen? Dies sind Probleme für Entwicklungs-, Schwellen- und Industrieländer gleichermaßen. Geschwindigkeit und Größenordnung des Wandels sind wesentliche Herausforderungen. Ohne neue Wohlstandskonzepte und Ordnungspolitiken  werden die Probleme nicht lösbar sein. Dass die Menschen, die die gestaltende Kraft im Erdsystem sind, im 21. Jahrhundert einen umfassenden und irreversiblen Erdsystemwandel auslösen können, wirft auch viele ethische Fragen auf.

2. Zwei Milliarden Menschen mit minimalen Einkommen, steigende Ungleichheit in vielen Gesellschaften und soziale Exklusion bleiben zentrale Herausforderungen, denn Ungleichheit und Exklusion sind nicht nur normative Fragen, sondern auch Ursachen für gesellschaftliche Instabilitäten, für Unsicherheit und Gewalt – das hat uns gerade der arabische Frühling gelehrt. Ähnlich wie der Klimawandel zu irreversiblen und für Menschen gefährlichen Kipp-Punkten im Erdsystem führen kann, können Ungleichheit und Exklusion ab einem bestimmten Niveau gesellschaftliche Verwerfungen auslösen. Die Antwort kann nicht mehr einfach lauten: Wachstum, gleich wie. Die Herausforderung ist: Wie bekommen wir grüne und sozial verträgliche Entwicklung zusammen? Dass erneuerbare Energien wünschenswert sind, aber höhere Energiepreise auch soziale Verteilungsfragen aufwerfen, kann man selbst in Deutschland beobachten. Die Antworten auf Ungleichheiten, die z. B. mit dem Problem der Staaten, Kapital angemessen zu besteuern, zusammenhängen, können offensichtlich nicht mehr nur national angegangen werden: Steuerflucht, legale und illegale Steuervermeidung, Geldwäsche sind internationale Herausforderungen, die nur durch internationale Kooperation bearbeitet werden können.

3. Globale Machtverschiebungen leiten nach 250 Jahren westlicher Dominanz im internationalen System ein multipolares, post-westliches Zeitalter ein. Eine friedliche Machttransformation stellt sich dabei nicht von allein ein. Die internationale Kooperation mit Akteuren, die vollständig andere Wertekonzepte vertreten, ist keine Banalität. Die meisten aufsteigenden Länder wollen nicht einfach nur der westlich geprägten Weltordnung  als nun wichtigere Akteure "beitreten", z. B. als OECD-Mitglieder. Die Gründung der BRICS-Bank (der neuen Entwicklungsbank der Länder Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) und der Asiatischen Infrastrukturbank sowie die sich massiv verdichtende "Süd-Süd-Kooperation" zeigen, dass sich das Gefüge der internationalen Ordnung massiv verändert. An der ersten "Global Partnership Konferenz for Effective Development Cooperation" im April 2014 in Mexiko nahmen China und Indien gar nicht erst teil; Brasilien beanspruchte nur einen Beobachterstatus. Europa und der Westen stehen in diesem Prozess der Entwicklung einer post-westlichen  Kooperationsordnung und der Vermeidung einer G20-Konstellation, in der die Gefahr besteht, keine wirkungsvollen Allianzen mehr zustande zu bekommen, um globale Interdependenzprobleme anzugehen, noch ganz am Anfang.

4. Es gilt auch, nationale Machtverschiebungen und veränderte nationale Entwicklungskonfigurationen besser zu verstehen. Südkorea, Taiwan, mit gewissen Einschränkungen Singapur haben gezeigt, dass ökonomischer Erfolg auch nicht-westliche  Gesellschaften in Richtung Demokratisierung führen kann. Es bleibt abzuwarten, ob auch China einen solchen Weg findet. Für die westlichen Kooperationsstrategien bleibt es wichtig, ökonomische Entwicklung (nun im Kontext ökologischer Nachhaltigkeit) zu unterstützen. "Zwischenländer" wie Peru, Vietnam oder auch Ruanda, die noch nicht zu den fortgeschrittenen Schwellenländern, aber auch nicht mehr zu den ärmsten Nationen zählen (und zu dieser Gruppe der "Zwischengesellschaften" zählen etwa 60–70 Länder) können von außen unterstützt werden, doch sie weisen klassische Entwicklungspolitik und  wohlmeinenden Paternalismus zunehmend ab. Hier müssen neue Kooperationsformen entwickelt werden. Autoritäre, oft ressourcenreiche Modernisierungsverlierer wie Ägypten, Irak, Syrien, Libyen, hoffentlich  nicht auch irgendwann Russland oder Saudi Arabien, können, wie uns die Dynamiken der letzten Jahre gezeigt haben, in kurzer Zeit kollabieren und sich in Zonen der Unsicherheit verwandeln. Und dann sind da noch die gut 20 Länder, die zu den ärmsten der Welt gehören, zerfallen, von Gewalt gekennzeichnet, in denen ein Drittel der weltweit ärmsten Menschen lebt: Somalia, Kongo,  Afghanistan. Langfristiges Engagement und Risikoinvestitionen sind hier gefragt. Eine Garantie auf Erfolg gibt es nicht. Diese differenzierte und zerklüftete Länderlandschaft gerät in der aktuellen Diskussion zur Umsetzung der 2030-Agenda zu stark in den Hintergrund. Die Verständigung auf globale Entwicklungsziele für Entwicklungs-, Schwellen- und Industrieländer gleichermaßen, auf normative Meilensteine und Elemente eines universellen Wohlfahrtsverständnisses ist wichtig. Länder- und Regionalstrategien bleiben aber auf ein hohes Maß an intrinsischem Wissen über konkrete, lokale Entwicklungsdynamiken angewiesen.

5. Die digitale Revolution steht noch immer ganz am Anfang. Sie verändert  Innovationsprozesse, Wissenschaft, die Art, wie wir lernen, Zivilgesellschaften, Demokratien, Diktaturen, globale Wertschöpfungsketten, das Leben von afrikanischen Kleinbauern, von CEOs (Vorstandsvorsitzenden) von Weltunternehmen, von IS-Terroristen und Menschenrechtsaktivisten, das internationale System, Global Governance, lokale, nationale und globale Kulturen. So wie die Druckmaschine am Anfang der Aufklärung, der industriellen Revolution, der raschen Verbreitung von Wissen und Ideen stand, wird die erste globale Kommunikationsinfrastruktur der Menschheitsgeschichte das 21. Jahrhundert prägen. Die digitale Revolution wird auch die Kooperationsmuster zwischen Staaten verändern – wie genau, ist bisher kaum abzusehen. Wissenschaft und Praxis sollten sich dringend ernsthaft mit dieser großen weltgesellschaftsverändernden Kraft beschäftigen.

6. Es könnte sein, dass nach den beiden großen, verheerenden, extremistischen, totalitären, menschenverachtenden Ideologien mit Weltherrschaftsanspruch, die der Westen – in Pervertierung der  Aufklärung  – im  19. und 20. Jahrhundert hervorgebracht hat (den Faschismus und den Kommunismus), mit den radikal-islamistischen Bewegungen, mit dem Dschihadismus, eine dritte internationalisierte Gewaltideologie entsteht, die alle anderen gesellschaftlichen und religiösen Gegenentwürfe zur Vernichtung freigibt. Der Westen muss sich intensiver mit der islamischen Welt beschäftigen, und alle zivilisierten Kräfte, zu denen auch der allergrößte Teil der zwei Milliarden Menschen in der islamischen Welt selbst gehört, zusammenführen, um die Grundprinzipien von Menschlichkeit zu befestigen.

Es geht also um die Schaffung einer globalen Kultur der Kooperation und weltbürgerlicher Gesinnung, damit im 21. Jahrhundert eine Chance besteht, zunehmend dichtere globale Interdependenzen zu gestalten, die globalen Systemrisiken einzuhegen und die globalen Gemeinschaftsgüter (allen voran das Erdsystem, aber auch die internationalen  Finanzmärkte) zu stabilisieren und auf die Grundlage allgemein akzeptierter Fairness-Kriterien zu stellen. Bundespräsident a. D. Horst Köhler hat auf diese große Aufgabe im Rahmen seiner Arbeit für das »High Level Panel of Eminent Persons on the Post-2015 Development Agenda« immer wieder hingewiesen. Machtverschiebungen, polyzentrische Machtgefüge, die Erosion von Nord-Süd-, Geber-Nehmer-Strukturen, also der Übergang in eine postwestliche Weltordnung machen große Anstrengungen zur Entwicklung einer tragfähigen und friedlichen globalen Kooperationsstruktur notwendig. Hiermit sind unterschiedliche und langfristige Dynamiken angesprochen, an denen sich entscheidet, ob wir in eine eher friedliche statt permanent krisenhafte und unsichere Weltgesellschaft hineinwachsen: Verhandlungen von Interessengegensätzen sowie die Schaffung gemeinsamer Interessen sind notwendig; Dialoge über unterschiedliche sowie gemeinsame Normen und Werte sowie Mechanismen der Zusammenarbeit, die kulturelle Diversität akzeptieren, ohne grundlegende  Menschenrechte zu relativieren, müssen geführt werden; gemeinsame Wissensproduktion kann helfen, geteilte Perspektiven auf internationale Problemlagen und Ansätze für internationale Problemlösungen zu erarbeiten. Aus der Kooperationsforschung  sind die zentralen Mechanismen bekannt, um Kooperationsbeziehungen zu entwickeln und dann zu stabilisieren: Reziprozität, Vertrauen, dichte Kommunikationsbeziehungen, Reputation, Fairness, Instrumente zur Unterstützung regelkonformen Verhaltens oder zur Sanktionierung von Free-Rider-Strategien (Trittbrettfahrer), Wir-Identitäten und gemeinsame Narrative. In Räumen und Akteurs-Konstellationen, in denen diese Mechanismen stark ausgeprägt sind, steigen die Chancen, Machtspiele in Kooperationsbeziehungen  einhegen zu können und die Wahrscheinlichkeit dafür, Strategien gemeinsamer Problemlösung gegen enge Einzelinteressen durchsetzen zu können. Nichts davon ist einfach, Rückschläge sind unvermeidlich, alle Elemente brauchen Zeit und langen Atem. Sicher ist, dass eine globale Kooperationskultur, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts angemessen wäre, nicht automatisch aus den Dynamiken globalen Wandels entsteht. Eine derartige neue globale Kooperationskultur aufzubauen, sollte eine der vornehmsten Aufgaben einer globalisierungstauglichen Außenpolitik sein. Dafür sollte sie in der Gesellschaft werben, denn es könnte eine Frage von Krieg oder Frieden sein.

Prof. Dr. Dirk Messner, geboren 1962 in Bünde, Politikwissenschaftler, ist Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE). Er ist Co-Direktor des Käte Hamburger-Kollegs "Center for Global Cooperation Research" an der Universität Duisburg-Essen, wo er Politikwissenschaft lehrt. Längere Forschungsaufenthalte an Universitäten und Forschungszentren in Lateinamerika und Asien. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt gemeinsam mit Silke Weinlich (Hg.): Global Cooperation and the Human Factor in International  Relations, New York, 2016.

Dieser Text ist dem Buch "Global Citizenship - Perspektiven einer Weltgemeinschaft", Roland Bernecker/ Ronald Grätz (Hg.), Steidl entnommen.