Welterbe in Deutschland

Wo die Moderne ihren Anfang nahm

Üppige Jugendstil-Ornamentik neben reduzierten Fassaden, neues Wohnen und bis zur letzten Teetasse durchdesignte Häuser: Die Kunstschaffenden auf der Darmstädter Mathildenhöhe legten den Grundstein für das, was das Bauhaus später perfektionierte und was heute mit dem Begriff des Neuen Bauens verbunden wird. Seit kurzem ist das Ensemble Teil des UNESCO-Welterbes.

„Auf der Mathildenhöhe steht die Wiege des Bauhauses.“ Philipp Gutbrod neigt nicht zu Übertreibungen, und seine Begeisterung für die Künstlerkolonie auf der Höhe von Darmstadt ist sicher nur teilweise seiner Funktion als Direktor des Institut Mathildenhöhe geschuldet. Wer das beinahe quadratförmige Viertel durchwandert, in dem die Gebäude der Künstlerkolonie versammelt sind, spürt die Faszination dieses Ensembles: den Geist des Aufbruchs am Anfang des 20. Jahrhunderts, den unbedingten Willen zur Erneuerung, den Wunsch nach friedlicher Koexistenz der Kulturen in aller Welt und nach gegenseitiger Inspiration. Mit der Aufnahme des Ensembles „Mathildenhöhe Darmstadt“ in das UNESCO-Welterbe wird ihre weltweite Bedeutung als Wegbereiterin der Moderne unterstrichen. „Darmstadt schließt damit die Lücke der Frühmoderne in der Reihe der Welterbestätten“, sagt Jennifer Verhoeven, Koordinatorin der UNESCO-Welterbestätten beim Landesamt für Denkmalpflege Hessen.

Zentrum der modernen Kunst und Architektur

14 Jahre lang, von 1901 bis 1914, war die Mathildenhöhe eines der wichtigsten Zentren der modernen Kunst und Architektur in Europa und der Welt. Ein visionärer Landesherr, der überwiegend sehr junge Architekten und Künstler auf dieses Experimentierfeld einlud, und vier internationale Ausstellungen – die letzte jäh beendet durch den Beginn des Ersten Weltkrieges – haben ausgereicht, um die bis dato gültigen Gesetze von Architektur und Design in ein neues Zeitalter zu führen. Der Architekt Joseph Maria Olbrich und der Maler, Architekt und Designer Peter Behrens – Lehrer von Le Corbusier und den Bauhaus-Direktoren Gropius und Mies van der Rohe – waren mit Anfang 30 schon die Grandseigneure der Szene. „Das Tempo hier war hoch, die Kreativität unglaublich groß“, sagt Philipp Gutbrod.

Ausgehend von der sogenannten arts&craft-Bewegung der englischen Architektur- und Kunstszene entwickelten die Kunstschaffenden auf der Mathildenhöhe neue Bauweisen, die bis heute im sogenannten Internationalen Stil sichtbar sind. Noch rankten sich die vergoldeten Blüten um aufwändig gestaltete Türen und Eingangsbereiche. Doch die größten Teile der Außenwände präsentierten sich schon losgelöst vom Jugendstil in fast schmucklosem Weiß. „Art Nouveau, wie der Jugendstil weltweit heißt, trifft eigentlich besser, was hier zu sehen ist“, sagt Philipp Gutbrod, der Kunsthistoriker. „Neue Kunst“ also. Klare Linien, reduzierte Ornamentik, Klinkerfriese, umlaufende Fensterfronten, Flachdächer, wie sie im Bauhaus zu vorherrschenden Stilelementen wurden, sah man erstmals in Darmstadt. Zum Beispiel im von Architekt Joseph Maria Olbrich entworfenen Hochzeitsturm, der schon 1908 über Eck gestaltete Fenster zeigt. Neben dem Kunstwerk, das längst zum Wahrzeichen der Stadt avanciert ist, erhebt sich beinahe ein bisschen zu wuchtig das Ausstellungsgebäude aus dem gleichen Jahr und ebenfalls von Olbrich. Dort zeigten die vor Ort wirkenden Kunstschaffenden ihre Experimente zu Architektur, Raumkunst, Kunst und Design.

„Nahezu alles, was hier entworfen wurde, sollte auch verkauft werden“, erläutert Philipp Gutbrod. Bildende Kunst mischte sich mit Kunsthandwerk, Typografien wurden entwickelt, Grundlagen für das Corporate Design aufstrebender Industrieunternehmen gelegt, Architektur sollte dem Menschen dienen. Großherzog Ernst Ludwig unterstützte zwar ideell und finanziell die Ausstellungen. Die Künstlerkolonie Darmstadt musste aber selbst Geld durch Aufträge und Kooperationen erwirtschaften. So wurden die Hausentwürfe von Ausstellung zu Ausstellung an aktuelle Bedürfnisse angepasst – auch, um sie besser verkaufen zu können. In der letzten Werkschau wurde schließlich sogar ein Komplex mit Mietwohnungen gebaut. „Ernst Ludwig hatte die sozialen Themen im Blick“, erzählt Philipp Gutbrod. „Auch der einfache Arbeiter sollte in einem Haus der modernen Architektur wohnen können.“ Schon die zweite Schau refinanzierte sich durch den Verkauf der Häuser und der Gebrauchsgegenstände.

Herz des Geländes war so vor allem das Ernst Ludwig-Haus, das von Olbrich entworfene zentrale Atelierhaus. Dort wurde gedacht, debattiert, entworfen und wieder verworfen. Heute werden dort Werke der einstigen 23 Mitglieder der Künstlerkolonie in einer Dauerausstellung gezeigt. Mit seinem vergoldeten Eingangsbereich und den monumentalen Skulpturen ist es trotz Kriegszerstörungen bis heute der Blickfang der Anlage.

Philipp Gutbrod, Direktor Institut Mathildenhöhe, im Interview

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Eingänge sind die Schmuckstücke der Häuser

Überhaupt: die Eingänge. Haus Olbrich, Haus Deiters, Großes Haus Glückert, Haus Behrens – die Haustüren sind mehr als eine Öffnung, die ins Innere führt. Sie sind Entrée, Aushängeschild und Schmuckstück eines jeden Gebäudes. „Der Gartenweg bis zum Eingang ist das Schönste an meinem Haus“, sagt auch Renate Charlotte Hoffmann, die sich im Verein der Freunde der Mathildenhöhe engagiert. Die Kunsthistorikerin und Vergolderin lebt im Eckhaus der sogenannten Dreihäusergruppe, das sie von den Großeltern übernommen hat. Die drei aneinander gebauten Häuser waren die einzigen Wohngebäude, die zur zweiten Ausstellung 1904 von Olbrich entworfen wurden. Es ist dieses Ensemble, das verdeutlicht, wie schwierig es ist, ein solches Erbe zu besitzen.

 

Renate Charlotte Hoffmann hütet die noch verbliebenen Originale des Olbrichschen Entwurfs wie einen Schatz, restauriert behutsam und nach finanziellen Möglichkeiten. Doch ab dem ersten Stockwerk ist nur wenig original, beispielsweise ein Terrazzo-Boden, und der einst auffällige Giebel ist nur noch angedeutet. Das Nachbarhaus wurde gar durch einen Neubau ersetzt. Dennoch ist die Struktur der Anlage deutlich erkennbar und vieles der Dreihäusergruppe im Original erhalten. Ganz so, wie es in den Statuten der Welterbekonvention von 1972 steht.

Platanenhain: Bewahrung und Erneuerung als durchgängiges Motiv

Auch zum Platanenhain, in dem 178 alte Bäume ein schattiges Geviert voller Plastiken und Skulpturen strukturieren, führt ein monumentales Portal. Tag und Nacht, hell und dunkel, Geburt und Tod, der Verlauf der Jahreszeiten, Bewahrung und Erneuerung sind die vorherrschenden Themen im Hain, den der Bildhauer und Architekt Bernhard Hoetger anlässlich der vierten Ausstellung in den Jahren 1912 bis 1914 ausgestaltet hat. Für sein Gesamtkunstwerk hat sich Hoetger auch von altägyptischen Schriften und der indischen Bhagavad Gita inspirieren lassen. „Das ist aus Bewunderung ‚gesampelte‘ Kunst, fernab des damals noch üblichen kolonialistischen Blickes auf die Kulturen Afrikas und Asiens“, erläutert Philipp Gutbrod und unterstreicht einmal mehr den Aufbruchcharakter, der vielen Kunstwerken innewohnt.

Die friedliche Koexistenz der Kulturen zeigt sich auch direkt neben dem Hain. Die russisch-orthodoxe Kirche ist mit ornamentalen Fliesen von Villeroy und Boch verziert, das Lilienbecken von Albin Müller schafft einen harmonischen Übergang von der Kirche zu den umliegenden Ausstellungsgebäuden und zum Schwanentempel. Eine Treppe führt von dort ins umliegende Viertel mit den Villen und Wohnhäusern. Die meisten von ihnen sind auch heute noch gut zu erkennen: „Trotz der teilweise massiven Zerstörungen während des Zweiten Weltkrieges ist die Struktur der Mathildenhöhe erhalten geblieben. Ihr Wiederaufbau begann unmittelbar nach dem Krieg, das Diskussions- und Ausstellungsformat der Darmstädter Gespräche, zu denen Geistesgrößen wie Theodor W. Adorno oder Max Horkheimer kamen, knüpfte an den Geist der Debatten des frühen 20. Jahrhunderts an“, sagt Jennifer Verhoeven. Und: „Die Bedeutung der Künstlerkolonie wurde in der Stadt und in Fachkreisen nie angezweifelt.“ Wie wichtig ihre Rolle weltweit war, hat nun die UNESCO bestätigt.

Renate Charlotte Hoffmann, Bewohnerin Künstlerhaus, im Interview

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