Welterbe in Deutschland
Neues Welterbe würdigt die Herrnhuter Siedlungen
Schlichte Eleganz: Die Siedlungen der Herrnhuter Brüdergemeine in Sachsen, Nordirland und den USA gehören seit Juli 2024 zum UNESCO-Welterbe. Das kulturelle Erbe spiegelt sich nicht nur in den historischen Bauwerken wider, die mit dem Herrnhuter Barock einen besonderen Baustil hervorgebracht haben, sondern wird vor allem von den Menschen vor Ort gelebt.
Videoporträt
Die Herrnhuter Brüdergemeine, auch bekannt als Unitas Fratrum oder Moravian Church, ist weltweit für ihre missionarische Arbeit, schlichte Lebensweise und die „Losungen“ bekannt – eine überkonfessionelle Sammlung von Bibel- und anderen christlichen Texten für den Alltag. Die Glaubensauffassung der protestantischen Freikirche betont die Gleichheit aller Menschen vor Gott, praktische Frömmigkeit im Alltag, missionarischen Eifer, religiöse Toleranz und schlichte, gemeinschaftsorientierte Gottesdienste. Auch der Herrnhuter Baustil betont das Schlichte. Er hat sogar eigene Maßeinheiten hervorgebracht, die die Religionsgemeinschaft weltweit miteinander verbindet. So passen Türen aus dem Berthelsdorfer Schloss problemlos in die Gebäude der Herrnhuter Gemeinen in den USA oder Gracehill. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass es sich bei der Ernennung der Herrnhuter Siedlungen zum Welterbe um eine transnationale Auszeichnung handelt: Gemeinsam mit dem bereits 2015 ausgezeichneten Christiansfeld in Dänemark sind die Siedlungen in Nordirland, den USA und Deutschland zu einer seriellen Welterbestätte zusammengeführt worden. Das sächsische Herrnhut allerdings nimmt in dem Netzwerk eine besondere Stellung ein: Hier nahm die Siedlungsgeschichte ihren Anfang.
Herrnhuts Gründung: Zuflucht für religiös Verfolgte unter Graf Zinzendorf
Als Graf Nikolaus Ludwig Zinzendorf 1722 Herrnhut gründete, gab es noch keinen einheitlichen Baustil und statt Kirchensaal, Gottesacker und Herrenhäuser grenzte nur freies Land an sein Berthelsdorfer Schloss. Schon als sächsischer Hof- und Justizrat hatte Zinzendorf anonym gesellschaftliche und kirchliche Missstände kritisiert und bei Kaiser Karl VI. um mehr Toleranz für den Geheimprotestantismus geworben. Dass viele Protestanten ihren Glauben nur heimlich auszuüben wagten, trieb Zinzendorf um. Auf Reisen in Schlesien suchte er Kontakt zu heimlichen Protestanten und bot ihnen auf seinem Gut Berthelsdorf, rund 70 Kilometer von Dresden entfernt, einen Zufluchtsort. Unter dem Schutz des Grafen führte der mährische Zimmermann Christian David die ersten Exulanten nach Berthelsdorf und fällte am 17. Juni 1722 in der Nähe des Berthelsdorfer Schlosses den ersten Baum für den Bau eines neuen Zuhauses. Das Datum gilt heute als der Beginn von Herrnhut. Der Ortsname, davon abgeleitet „Unter des Herrn Hut“ zu stehen, spiegelt das Vertrauen der Gemeinschaft in Gottes Schutz wider. Davids Grab liegt nur wenige Schritte entfernt von Zinzendorfs auf dem Friedhof, den die Herrnhuter „Gottesacker“ nennen.
Der Gottesacker als Zeuge der Zeit
„Das Besondere an dem Typus 'Gottesacker' sind die schlichten, einfachen Grabsteine, die flach auf dem Boden eingelassen sind. Sie symbolisieren, dass alle Menschen vor Gott gleich sind“, erzählt Willem Riecke. Der Mann mit den blauen Augen und dem verschmitzten Lächeln ist selbst Mitglied der Herrnhuter Gemeine und seit 2008 Bürgermeister der Kleinstadt. Er hat die UNESCO-Welterbe-Bewerbung eng begleitet. Auch seine Vorfahren liegen auf dem Gottesacker begraben, den die Gemeine am Hang des Hutbergs nordöstlich der Siedlung 1731 angelegt hat und bis heute nutzt. Die Bezeichnung „Gottesacker“ spiegelt den Herrnhuter Glauben wider, dass die Verstorbenen, wie in einen Acker gesät, auf den Tag der Auferstehung warten.
Die Herrnhuter versammeln sich hier nicht nur zu Begräbnissen, sondern feiern auch jedes Jahr am Ostermorgen die Auferstehung Jesu in Verbundenheit mit den bereits verstorbenen Gemeindemitgliedern. Etwa 6.000 Männer und Frauen haben auf dem Gottesacker ihre letzte Ruhestätte gefunden. Den Eingang ziert ein schlichter Torbogen. Auf einigen Grabsteinen zeichnet Moos die Namen der verstorbenen nach. Bis auf ein paar Schildchen, die auf besonders verdiente Gemeindemitglieder hinweisen, fällt sofort die Schlichtheit des Friedhofes ins Auge: Es gibt keine Blumen, keine Kerzen, keine Bilder von Verstorbenen. Allein acht sarkophagartige Steinmonumente in der Mittelallee heben sich im Gesamtbild ab: die Gräber der Familie von Zinzendorf. Eine Mittelallee trennt die Männer- und Frauengräber voneinander. Sie lässt sich gedanklich bis in den Kirchensaal weiterführen, wo im 18. Jahrhundert Männer und Frauen ebenfalls durch eine Mittelachse getrennt voneinander zum Gottesdienst zusammenkamen.
Das Konzept „Kirchsaal“ verbreitet sich weltweit
Das barocke Gebäudeensemble mit dem Kirchensaal liegt im Zentrum der Kleinstadt, zugleich ist es bis heute auch der Mittelpunkt der lebendigen Geschichte der Herrnhuter Brüdergemeine. Der Kirchensaal, „gute Stube“ genannt, strahlt schlichte Eleganz aus und verbindet damit die Frömmigkeit und adelige Abstammung Zinzendorfs: Die Wände und die verschiebbaren Bänke sind in strahlendem Weiß gehalten, der Boden aus Weißtanne gefertigt. Es riecht nach Holz. Ein großer Herrnhuter Stern und Kronleuchter aus Messing schweben über dem lichtdurchfluteten Saal.
„Bei der Konzeption des Herrnhuter Kirchensaals hat man sich von den Versammlungssälen ländlicher Herrenhäuser oder auch einer Schulaula inspirieren lassen. Daher unterscheidet sich die Herrnhuter Kirche von den lutherischen Kirchen: Es gibt keine Kanzel und keinen Altar. Der Pfarrer oder die Pfarrerin sitzt an einem einfachen Tisch, denn wir wollen nicht von oben herab predigen. Es gibt keine bunten Fenster und keine Gemälde, aber eine große Orgel. Wir haben eine Art Ohrenspiritualität: eine Frömmigkeit, die auf das Hören Wert legt, auf das gesprochene Wort, auf Gesang und Musik“, erzählt Peter Vogt, Pfarrer der Brüdergemeine Herrnhut.
Dass sich die Herrnhuter bei dem Bau ihrer Kirche an Versammlungssälen orientierten, ist kein Zufall: Kurz nach Herrnhuts Gründung 1722 errichteten die Herrnhuter ein Gemeindehaus mit einem kleinen Saal im ersten Stock. Er diente sowohl für Versammlungen als auch zum gemeinsamen Gottesdienst. Erst als der Saal für die wachsende Siedlung zu klein wurde, entschied sich die Gemeinschaft 1756, eine eigene Kirche zu bauen. Das Konzept des Versammlungssaals aber blieb – und verbreitete sich von Herrnhut aus über die ganze Welt.
Ein großes Feuer zerstört den ursprüngliche Kirchensaal
„Zum damaligen Zeitpunkt war die Herrnhuter Kirche die schönste und modernste Kirche der Brüdergemeine und diente auch allen anderen Siedlungen als Vorbild“, erzählt Vogt. Denn die Idee der Herrnhuter Arbeits- und Lebensgemeinschaft erreichte in kürzester Zeit auch Christen unterschiedlicher evangelischer Glaubensrichtungen an anderen Orten, sodass die Gemeinschaft schnell wuchs. Schon wenige Jahre nach Gründung Herrnhuts sandte die Gemeine Missionare aus. Ziel war die Verbreitung der christlichen Botschaft, die im Verständnis der Herrnhuter die Gleichheit aller Menschen einschließt. So kommt es, dass es heute auf der ganzen Welt Gemeinen der Herrnhuter Brüder gibt – mit insgesamt 1,2 Millionen Mitgliedern und vielen Kirchen, die dem Herrnhuter Kirchensaal nachempfunden sind.
Der ursprüngliche Kirchensaal in Herrnhut steht heute nicht mehr – Ende des Zweiten Weltkriegs brannten große Teile der Stadt ab, lediglich die Außenwände des Gebäudes blieben stehen. In den 1950er Jahren baute die Gemeine den Saal in vereinfachter Form wieder auf. Nach 1989 wurden das Dach und die Fassade erneuert. Erst in den letzten Jahren konnte der Saal wieder vollständig hergestellt werden und bietet heute etwa 600 Menschen Platz. Seinen ursprünglichen Zweck erfüllt der neue Kirchensaal noch immer: Nicht nur zu Gottesdiensten, sondern auch zu vielen anderen Veranstaltungen kommen Gemeindeglieder und Gäste die Herrnhuter hier zusammen.
Das Berthelsdorf Schloss als Ausgangspunkt der Herrnhuter Idee
Etwa zwei Kilometer vom Zentrum der Stadt liegt das Schloss Berthelsdorf, oft auch „Zinzendorfschloss“ genannt. Architektonisch gleicht der zweigeschossige, weiße Bau mit dem roten Ziegeldach allerdings eher einem geräumigen Herrenhaus. Die Fassade ist von den gleichmäßigen Sprossenfenstern geprägt, weitere Verzierungen gibt es nicht – wie so oft in Herrnhut. Dafür begrüßen Bibelworte über dem Eingangsportal die Eintretenden: „Hier übernachten wir als Gäste, drum ist dies Haus nicht schön und feste. So recht, wir haben noch ein Haus im Himmel, das sieht anders aus.“
Dass das Schloss den Baustil der Herrnhuter Brüdergemeinde vorwegnimmt, ist kein Zufall: Graf Zinzendorf selbst prägte seine Gestalt. Im Sommer 1721 beschloss er, ein verfallenes Herrenhaus, was an gleicher Stelle stand, neu aufzubauen und als Wohnhaus zu nutzen. Das Schloss wurde neben der Berthelsdorfer Kirche zu einem wichtigen Anlaufpunkt für die Herrnhuter Bewegung, die 1727 zur offiziellen Gründung der Herrnhuter Brüdergemeine führte.
Herrnhuter retten ihr Schloss vor dem Verfall
Fast wäre das Schloss jedoch verfallen: Zu Beginn des Jahrtausends litt das herrschaftliche Gebäude noch unter beschädigten Fassaden, bröckelndem Putz und verfärbtem Mauerwerk. Während des Nationalsozialismus wurde das Gutsareal zur Aufzucht von Kavalleriepferden genutzt. In der DDR verfiel das Schloss gänzlich ungenutzt. 1975 musste das Schloss baupolizeilich gesperrt werden. Erst der Zusammenschluss von Mitgliedern der Herrnhuter Brüdergemeine, lokalen Bürgern, Architekten und Historikern, dem „Freundeskreis Zinzendorf-Schloss Berthelsdorf e. V.“, konnte das Schloss retten, indem sie das Gutsareal Ende der 1990er Jahre kauften und restaurierten. Heute dient das Schloss wieder als lebendige Veranstaltungsstätte für viele Konzerte, Lesungen und Ausstellungen.
„Der Status Welterbe ist für uns als Brüdergemeine ein Spiegel, in dem wir die Bedeutung unseres kulturellen und gebauten Erbes, aber auch unseres ideellen Erbes, deutlich vor Augen geführt bekommen. In unserer unmittelbaren Umgebung ist das Wissen über die Brüdergemeine und unsere Werte recht schwach ausgeprägt. Zukünftig möchten wir daher gerne vermehrt in die Umgebung der umliegenden Siedlungen hineinwirken und von unserer Geschichte erzählen“, sagt Bürgermeister Riecke. Denn neben Gottesacker, Kirchensaal und Zinzendorfschloss gibt es in Herrnhut noch viele Bauwerke und Geschichten zu entdecken. Das Welterbe wird dazu beitragen, sie alle noch sichtbarer zu machen.