Auf ein Wort,

„Schule 2030“

Finn Bjerknes

Finn Bjerknes
Schüler an der UNESCO-Projektschule Max-Windmüller-Gymnasium in Emden

Kathrin Peters

Kathrin Peters
Koordinatorin der UNESCO-Projektschulen in Schleswig-Holstein

Tobias Rusteberg

Tobias Rusteberg
Lehrer an der UNESCO-Projektschule TRG Osterode

Was bedeutet Bildung aus Ihrer Sicht?

Rusteberg: Bildung ist für mich viel mehr als reiner Wissenserwerb. Bildung ist eng an Erfahrungen und Erlebnisse geknüpft, die wir als Lehrer jungen Menschen im schulischen und außerschulischen Kontext ermöglichen müssen. Der Zugang zu Bildung ist nicht weltweit selbstverständlich, sehr wohl aber der Schlüssel für eine bessere, gerechtere Welt. Es sind die Jugendlichen mit Erfahrungen, Erlebnissen und eigener Meinung, die Visionen entwickeln und im positiven Wortsinn verkörpern, was Bildung mit oder besser gesagt aus Menschen macht.

Bjerknes: Da schließe ich mich an. Aus meiner Sicht besteht Bildung aus zwei Komponenten: Zum einen verstehe ich darunter die Grundlagenförderung, die man braucht, um zu verstehen, was es auf der Welt gibt. Die zweite Komponente handelt von Reflexion und Perspektiven, Handlungsfähigkeit.

Peters: Bildung ist für mich die umfassende Persönlichkeitsausbildung in allen ihren möglichen Potenzialen für den Einzelnen und auch in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft. Wenn wir jemanden erziehen, dann bringen wir ihn nur zu einer Vorstellung, die wir schon haben, und möchten ihn quasi irgendwo hinziehen. Wenn jemand erzogen ist und sich von alleine weiterbildet und alles an Instrumenten besitzt, um sich die Welt anzueignen und sich mit der Welt sinnvoll zu verbinden, dann ist er gebildet.  

Mit der Globalen Nachhaltigkeitsagenda hat die internationale Staatengemeinschaft festgelegt, bis 2030 eine inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung für alle zu erreichen. Was muss sich in Deutschland ändern, damit dies passiert?

Rusteberg: Ich finde, in Deutschland läuft schon ganz viel richtig gut. Wenn ich sehe, was es bei der Inklusion für Ansätze gibt, so schwierig das auch manchmal sein mag. Wenn ich sehe, dass im Grunde bei uns jeder die Chance hat, bildungstechnisch seine Ziele zu erreichen, jeder zur Schule gehen kann, jeder hoffentlich mit bestem Wissen und Gewissen gefördert wird. Wir haben individuelle Ansätze und müssen weiterhin alles dafür tun, die Chancengerechtigkeit im Bildungsbereich zu gewährleisten, und zwar ungeachtet der sozialen Herkunft des oder der Einzelnen.

Peters: Aus meiner Sicht brauchen wir einen komplett anderen Fokus auf Bildung. Wir brauchen eine Neufokussierung auf das Individuum. Wir müssen überlegen, was gut für den Einzelnen ist und wie er oder sie die gesteckten Ziele erreichen kann. Gleichzeit müssen wir Partizipation ermöglichen, inklusiv denken und handeln.

Bjerknes: Schule muss die Möglichkeit geben, Probleme zu entdecken. Nicht nur Lehrer sollten Herausforderungen aufzeigen. Wir müssen die Chance haben, sie selber zu identifizieren und lernen damit umzugehen, denn das werden wir in unserem gesamten Leben tun müssen.

Welchen Beitrag leisten die UNESCO-Projektschulen, um das Globale Bildungsziel zu erreichen?

Rusteberg: Die UNESCO-Projektschulen sind in vielerlei Hinsicht Vorreiter und Inspiration einer veränderten Form von Schule. Die technischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind heute derart komplex, dass wir Jugendliche mit Faktenwissen und reinem Frontalunterricht kaum noch begeistern können. Wie Herr Bjerknes eben schon angedeutet hat: Schüler müssen partizipieren, gestalten, hinterfragen, erproben, global denken und handeln und sich vernetzen. All das wird in UNESCO-Projektschulen nicht nur ermöglicht, sondern gewünscht und in fächer- sowie teils schulübergreifender Projektarbeit umgesetzt.

Peters: Um zur Umsetzung der Globalen Nachhaltigkeitsagenda durch Bildung beizutragen, vermitteln wir Nachhaltigkeitsthemen im Unterricht. Auch wenn es wichtige Themen sind, dürfen wir diese nicht zu schwer daher kommen lassen. Sonst erreichen wir die Schüler nicht. Die Themen müssen leicht und alltagstauglich, realitätsnah, aber auch spaßvoll aufbereitet werden. Meine Erfahrung ist: Das, was Schüler interessiert, sind Themen, zu denen sie einen Bezug in ihrem Leben herstellen können. Wichtig ist dabei auch, alle in die Gestaltung von Schule einzubinden. Hier sind wir in der UNESCO-Projektschullandschaft seit letztem Jahr gut vorangekommen. Erstmals inkludieren wir Schüler ernsthaft in konzeptionelle Fragen. Auch Eltern müssen mitgenommen werden.

Was ist das Besondere an UNESCO-Projektschulen?

Peters: Die UNESCO-Projektschulen sind modellhaft und mutig. Wir bieten uns den Akteuren der Bildungslandschaft als Ideenpool an. Partner können neue Herangehensweisen an Schule mit uns gemeinsam ausprobieren und wir tragen die Ergebnisse weiter. Dafür brauchen wir allerdings auch Freiheiten. Wir brauchen Raum, um auch mal etwas ausprobieren zu können.

Rusteberg: Für mich ist das Besondere an den Projektschulen die Haltung und der Blick auf pädagogische Notwendigkeiten. Ein Beispiel: An guten UNESCO-Projektschulen wird beim Bau eines deutsch-senegalesischen Brunnens nicht gefragt, was die Schüler in dieser Zeit an Unterricht verpassen, sondern, was sie durch diese Arbeit dazulernen. Es ist einfach eine andere Betrachtung der Wirklichkeit und ein klares Bekenntnis zu globalen Fragestellungen, die uns allesamt angehen.

Herr Bjerknes, woran merken Sie, dass Sie eine UNESCO-Projektschule besuchen?

Bjerknes: Was Herr Rusteberg gerade geschildert hat, trifft auch auf meine Schule zu. Wir engagieren uns für globale Themen. Wir werden an die Probleme der Welt herangeführt – Probleme, die uns vielleicht hier in der Kleinstadt erst mal gar nicht bewusst sind, uns aber alle etwas angehen. Da ist zum Beispiel der Klimawandel. Der betrifft uns ja plötzlich alle ganz schnell. Meine Schule ist sehr aktiv in der Projektarbeit und im Austausch mit Schulen in anderen Teilen der Welt. Ich war 2016 über das UNESCO-Projektschulnetzwerk im indischen Trivandrum bei einem Start-Up-Projekt.* Hier bin ich in eine andere Welt eingetaucht. Die ersten zwei Tage musste man sich erst mal daran gewöhnen. Dann hat mich der Aufenthalt sehr vorangebracht und Andersdenken hervorgerufen. Dinge mal aus einer ganz anderen Perspektive zu sehen, nicht nur aus der europäischen, sondern mal aus einer indischen Perspektive. Mal zu hören, wie Schüler in Indien Themen wie den Klimawandel oder die Luftverschmutzung sehen – das war toll.  Jetzt wollen wir unsere Projektideen, die wir in Trivandrum diskutiert haben, hier vorstellen und in Teilen umsetzen. Da geht es zum Beispiel um Flüchtlingshilfe, Mülltrennung und vieles mehr.

Was müssen Lehrkräfte heutzutage mitbringen, um gute Bildung zu gestalten?

Bjerknes: Oft wird ja einfach nach einem pauschal vorgegebenen Schema unterrichtet. Man lernt dann für Klassenarbeiten und in einem Jahr hat man alles wieder vergessen. Hier muss kreativer vorgegangen werden. Die Welt hat viele Gesichter und was sie braucht, ist Kreativität. Da müssen die Lehrer ansetzen und auch Handlungsfähigkeiten und Reflexionsfähigkeit vermitteln.

Rusteberg: Das stimmt. Zeitgemäße Bildung bedarf eines motivierten Lehrers, der es versteht, nicht nur die Köpfe, sondern auch die Herzen seiner Schüler für den Lernprozess nutzbar zu machen. Ein solcher Lehrer versteht es, das Lernen von Vokabeln so zu moderieren, dass der Schüler intrinsisch motiviert ist und vielleicht sogar weitere Wörter erfragt. Zwang und Lerndruck können im günstigen Fall klein gehalten, Offenheit, Flexibilität und Schülerpartizipation hoch gehalten werden. Wir müssen generell wieder mehr über die vielen tollen, wissbegierigen Schüler sprechen und dürfen uns nicht in grauen Gesprächen über Tadel, vergessene Hausaufgaben und mangelnde Disziplin verlieren. Kurz formuliert: Ein Lehrer versteht es, Potenziale seiner Schüler zu erkennen, diese zu fördern und auch zu fordern.

Peters: Das sehe ich ganz ähnlich. Gerade in den UNESCO-Projektschulen ist der Pädagoge mit Herz und mit Begeisterung, ein Pädagoge, der brennt, wichtiger als jemand, der moderne Themen einbringt. Offene und schülerorientierte Methoden machen Spaß. Ich glaube, dass wir in dem Bereich noch viel lernen können. Vielleicht sollten wir eine Weiterbildung beginnen, wie Lehrer an UNESCO-Projektschulen unterrichten.

Die Zukunft braucht weltoffene, politisch kompetente und handlungsfähige Menschen mit Gestaltungskompetenz, die bereit sind, sich für zukunftsfähige Lösungen einzusetzen. Wie tragen Sie dazu bei?

Peters: Wir arbeiten auf drei Ebenen. Zunächst agieren wir auf der Alltagsebene des einzelnen Schülers und versuchen dort durch Einsicht, durch Bildung, durch Faktenvermittlung, aber auch durch Selbstreflexion das Verhalten zu beeinflussen und nachhaltige Entwicklung als Lebensnotwendigkeit im Alltag zu verankern. Auf der zweiten Ebene muss Schule selbst organisatorisch Nachhaltigkeit modellhaft umsetzen. Die dritte Ebene ist dann die des Umfelds: Über die Zusammenarbeit mit anderen Schulen, in Jugendakademien und in internationalen Partnerschaftsprojekten vermitteln wir Gestaltungskompetenzen. Hier müssen wir nur aufpassen, dass wir zum Beispiel durch Langstreckenflüge nicht am Ende selber der Agenda 2030 entgegen handeln.

Rusteberg: Ich denke, dass die Vermittlung von Gestaltungskompetenzen sowohl in meiner unterrichtlichen Arbeit als auch im von mir initiierten Bildungs- und Begegnungsprojekt mit einer UNESCO-Projektschule im senegalesischen Kaolack den Kern bildet. Schüler, die die Bildungssituation in einem Hüttendorf erlebt haben und sehen, dass das ganze Dorf mit einem Brunnen auskommen muss oder wie schnell man vom modernen Fast-Food-Restaurant in ein Slumviertel gelangt, benötigen keine Sensibilisierung mehr für globale Fragen. Sie verstehen es auch, ihre Mitschüler für Antworten zu motivieren und ihre Erfahrungen kundzutun. Bei diesen außerschulischen Lernorten sieht man hinterher ein Ergebnis, das Schule im Unterrichtszimmer nicht leisten kann. Für diese Art der schulischen Arbeit bedarf es Schulleitungen, die weltoffen sind, die globales Lernen nicht nur auf die Agenda setzen, sondern auch ins Kollegium tragen und umsetzen. Es bedarf Lehrern, die mutig sind, die wagen, die vorangehen und auch neue Wege ausprobieren, die mit dem 45-minütigen Fachunterricht vielleicht auch mal anecken. Viele Flügel mit sich bringen ist das eine, aber Fliegen dürfen ist dann das andere.

Und abschließend noch ein Wunsch für Ihre Arbeit im Jahr 2017.

Rusteberg: Generell wäre es ein großer Wunsch von mir, wenn die vielen guten Ansätze in der heutigen Schullandschaft eine stärkere Vernetzung fänden und mehr Synergien bewirkten. Auch ein intensiverer Brückenbau zwischen Europa und dem globalen Süden wäre schön. Es bedarf einer Koordinierung von guten Beispielen, vielleicht unter dem Dach der UNESCO-Projektschulen im Rahmen der globalen Agenda 2030.

Bjerknes: Das finde ich auch. Aus meiner Sicht sind wir auf einem sehr guten Weg. Aber die Ergebnisse der vielen Projekte, die wir umgesetzt haben, sollten noch stärker verbreitet werden. Ich wünsche mir, dass wir weiter lernen, welche Herausforderungen auf uns zukommen werden und wie wir diese lösen können. Häufig gibt es ja Wege, die nicht übernatürlich sind. Ich wünsche mir, dass wir die Augen vor den großen Problemen der Welt nicht verschließen und handeln. Wenn viele eine kleine Sache tun, dann wird diese auch groß.

Peters: Ich wünsche mir etwas sehr Praktisches: dass die 16 Bundesländer enger kooperieren und einheitliche Standards für die UNESCO-Projektschularbeit etablieren, zum Beispiel bezüglich der Lehrdeputate, die wir für die UNESCO-Arbeit aufwenden dürfen. Da sich UNESCO-Schüler und Lehrkräfte öfter zur Zusammenarbeit besuchen als andere, müsste auch das Reisen beider Gruppen besser geklärt werden, finanziell und versicherungstechnisch. Wir brauchen gleiche Arbeitsbedingungen für alle, um uns auszutauschen, uns miteinander abzustimmen und das Netzwerk gemeinsam weiterzuentwickeln.

Rusteberg: Mir fällt noch etwas ganz Persönliches ein: Ich wünsche mir, dass sich weiterhin viele senegalesische und deutsche Schüler im Rahmen von Workshop-Reisen bei uns in Osterode und in Senegal begegnen, dass die Schüler, Kollegen und Eltern weiterhin so tatkräftig mitgestalten und wir weitere Schulen inspirieren. Begegnungen dieser Art sind gelebte Friedenspolitik und nur gemeinsam können wir die Schieflage der Welt beheben.

 

Finn Bjerknes...

...besucht die elfte Klasse der UNESCO-Projektschule Max-Windmüller-Gymnasium in Emden. Im Oktober 2016 nahm er an einem Indien-Austausch im Rahmen eines Start Up-Workshops der Deutschen UNESCO-Kommission teil.

Kathrin Peters...

...ist Koordinatorin an der Gemeinschaftsschule Ossenmoorpark in Norderstedt. Seit 2015 ist sie Landeskoordinatorin der UNESCO-Projektschulen in Schleswig-Holstein und Kreisfachberaterin für Umweltpädagogik/BNE für die Schulen im Kreis Segeberg, zuständig für die Auszeichnung von Zukunftsschulen.

Tobias Rusteberg...

...ist seit 2009 am Tilman-Riemenschneider-Gymnasium Osterode im Harz (TRG) in den Fächern Französisch und Deutsch tätig. Er hat im März 2012 ein Bildungs- und Begegnungsprojekt zwischen dem TRG und drei Schulen im senegalesischen Kaolack initiiert und fortentwickelt, in dessen Zentrum bis dato neun Begegnungsreisen stehen. Die Schulpartnerschaft wird maßgeblich durch die Vernetzungen mit der UNESCO sowie dem Goethe-Institut unterstützt und ist bereits mehrfach ausgezeichnet worden.

 

„START-UP“ Workshop in Indien

Das „START UP“ Projekt der UNESCO-Projektschulen ermutigt Jugendliche, lokale Projekte mit Bezug zu den im UNESCO-Weltaktionsprogramm Bildung für nachhaltige Entwicklung verankerten Nachhaltigkeitszielen zu entwickeln, umzusetzen und im Dialog mit Jugendlichen eines anderen Landes zu evaluieren.
   
Vom 16. bis 20. Oktober 2016 erarbeiteten 27 Jugendliche und Erwachsene aus indischen und deutschen UNESCO-Projektschulen in einem Workshop im indischen Trivandrum Ideen zur Förderung nachhaltiger Entwicklung.

2017 werden die Projektideen im Austausch mit den Partnern aus dem jeweils anderen Land umgesetzt. Die im Rahmen des Workshops entstandenen Kontakte werden vertieft, um stabile, partnerschaftliche Austauschformate zu etablieren.

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